Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 527

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sein, wenn solche neuen Gesichtspunkte auftauchen, damit in das alte, regelmäßige Agitationsgeklopfe einige Abwechslung kommt.“[1]

Es gibt gewiß keine Partei, für die die freie und unaufhörliche Selbstkritik in diesem Maße eine Lebensbedingung wäre wie für die Sozialdemokratie. Da wir mit der Entwicklung der Gesellschaft fortschreiten müssen, so ist ein beständiger Umwandlungsprozeß auch in unserer Kampfesweise die Vorbedingung unseres Wachstums, dieser ist aber nicht anders als durch die unaufhörliche Kritik unseres theoretischen Besitzstandes zu erreichen. Nur ist aber dabei folgendes als selbstverständlich vorausgesetzt. Die Selbstkritik in unserer Partei erfüllt bloß dann Ihren Zweck, der Entwicklung zu dienen, und ist demgemäß bloß dann zu begrüßen, wenn sie sich eben auf der Linie unseres Kampfes bewegt. Alle Kritik, die unseren Klassenkampf zur Verwirklichung des Endziels kräftiger, klarer, zielsicherer macht, verdient den größten Dank. Eine Kritik aber, die dahin strebt, uns zurückzuentwickeln, uns überhaupt zum Verlassen des Klassenkampfes und zum Aufgeben des Endziels zu bringen, diese Kritik ist nicht mehr ein Faktor des Fortschritts und der Entwicklung, sondern des Verfalls und der Zersetzung.

Was würden wir dazu sagen, wenn man in unser „altes Agitationsgeklopfe“ dadurch „Abwechslung“ bringen wollte, daß man eine antisemitische Agitation zu entfalten begänne? Für eine solche „Abwechslung“ hätten unsere Genossen sicher nicht einen Dank, sondern bloß einen Entrüstungsschrei übrig. Aber das Befürworten des Militarismus z. B., wie es Schippel fertiggebracht hat, befindet sich in keinem geringeren Widerspruch zu unserem Programm als der Antisemitismus.

Würden wir mit gleicher „Freude“ jede „Kritik“ aufnehmen, die, die uns zum Ziel vorwärtsbringt, wie die, die uns vom Ziel ab- und überhaupt auf ein ganz anderes Feld zieht, so wären wir nicht eine zielsichere Kampfpartei, sondern eine Gesellschaft von Schwätzern, die mit großem Lärm ins Feld hinausgerückt ist, ohne selbst recht zu wissen, wohin sie gehen will, und bereit, auf jeden „Ratschlag“ hin die ganze Marschroute zu ändern oder überhaupt zurückzukehren und „sich schlafen zu legen“.

Es ist nämlich eines zu bedenken. Sosehr wir die Freiheit der Selbstkritik brauchen und ihr die weitesten Schranken lassen, so muß es doch ein gewisses Mindestmaß von Grundsätzen geben, die unser Wesen, unsere Existenz selbst ausmachen und die den Boden unseres Zusammenwirkens als Mitglieder einer Partei bilden. Auf diese wenigen allgemeinsten Grundsätze können wir nicht innerhalb unserer Reihen das Prinzip

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[1] l. c., S. 261 f. [Fußnote im Original]