Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 514

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auf diese Weise nur das Räsonnement des bayerischen Wahlkompromisses zu verallgemeinern, und wir verwandeln uns aus einer sozialistischen in eine bürgerliche Arbeiterpartei.

Zu solchen Konsequenzen führen die „bayerischen Besonderheiten“. Übrigens ist es mit diesen „Besonderheiten“ eine heikle Geschichte. Wenn wir in Norddeutschland die bayerischen Verhältnisse so wenig kennen, daß wir kein kompetentes Urteil über die Anwendung der sozialdemokratischen Grundsätze in Bayern abzugeben vermögen, wie nimmt sich die bayerische sozialdemokratische Presse z. B. heraus, über die Kolonialverwaltung in Ostafrika zu urteilen? Wir befürchten, daß, wenn Genosse Vollmar einmal im Reichstag die Kolonialangelegenheiten zur Sprache bringt, ihm vom Bundesratstisch zugerufen wird: Was, schlechte Verwaltung! Die Weiber peitschen widerspreche den Prinzipien der Menschlichkeit! Das ist abstrakte Prinzipienreiterei, man muß eben die Verhältnisse kennen, man würde uns da drüben gar nicht verstehen, wenn wir nicht die Peitsche gebrauchten. „Wer in der praktischen politischen Arbeit steht, kann nicht so sehr Gefühlsmensch des Prinzips sein, daß er dogmatischer Schrullen halber leichtfertig“, sagen wir, die Autorität untergräbt „und damit aus einem schädlichen Fanatismus für das sogenannte Prinzip die Sache schädigt, der er zu dienen hat“[1].

Aber es ist eben nichts als ein Kunstgriff der bayerischen Genossen, wenn sie die Sache so darstellen, als bekämpfe man ihre Wahlabmachung nur dem abstrakten Prinzip zuliebe. Es hieße dieser Politik wirklich viel zuviel Ehre, den sozialdemokratischen Grundsätzen aber das größte Unrecht erweisen, wollte man die bayerische Angelegenheit nur als einen Prinzipienverstoß betrachten. Das wichtigste an der Geschichte ist gerade die praktische Seite, „der greifbare Erfolg“. Dieser bestand ja bekanntlich vor allem darin, daß die Genossen durch die Schaffung einer wahlreform-feindlichen Zentrumsmehrheit die Wahlreform aufs wirksamste herbeizuführen vorgaben. Wir wiesen auf das Verkehrte dieser „praktischen Politik“ hin. Was antwortet man uns darauf in Bayern? Die „Fränkische Tagespost“ antwortet verlegen: „Daß die notwendige Umgestaltung (des Wahlmodus), wenn irgend möglich, so eingerichtet werden soll, daß der Sozialdemokratie Abbruch getan wird, ist wahrscheinlich und entspricht den üblichen Anstrengungen der Bourgeoisie ... Wie weit aber die Reaktion in Bayern damit gehen kann und wird, wollen wir zunächst abwarten.“

Das ist alles, was von der famosen „Erschütterung des Wahlrechts“, von

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[1] Münchener Post, Nr. 205 vom 12. September 1899, S. 2.