Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 513

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uns die Mehrheit gekriegt, wir wären dabei nur leer ausgegangen! Das ist eine vorzügliche Beweisführung, die uns lebhaft an jenes bekannte Räsonnement der russischen bestechlichen Beamten erinnert, die ihren skrupulöseren Kollegen gewöhnlich entgegenhalten: „Greif zu, du Schafskopf! Nimmst du´s nicht, so nimmt´s ein anderer, ‚genommen‘ wird´s ja sowieso!“

Diese Beweisführung enthält nämlich eine äußerst wichtige allgemeine Regel für die sozialdemokratische Taktik.

Wenn wir alles unterstützen dürfen, was auch ohne unser Zutun geschieht und was wir nicht verhindern können, ja dann könnten wir doch eigentlich auch Panzerschiffe, auch Getreidezölle, auch Militärvorlagen usw. bewilligen, denn das alles wird sicher sowieso auch ohne uns bewilligt.

Was hinter diesem Räsonnement steckt, ist der Satz: Nicht gegen Dinge ankämpfen, die wir nicht verhindern können, vielmehr uns, indem wir sie unterstützen, einen Vorteil sichern. Das sind bekannte Noten. Dieses Lied haben wir schon gehört, und zwar in Hamburg, wo man uns sagte: „Die Soldaten sind bewilligt, die Formationen und alles ist bewilligt; wir können das nicht ändern, wir haben es nicht in unseren Händen ... Ist man in einer solchen Lage, kann man die Kriege nicht verhindern, da kann man doch nicht unseren Soldaten schlechte Flinten, schlechte Kanonen geben.“[1]

Das ist genau der Gedankengang der bayerischen Genossen. Damit ist aber von ihnen selbst der schlagendste Beweis erbracht, wie sehr sie mit ihrer Wahlabmachung die Taktik der grundsätzlichen Opposition verlassen haben. Denn was ist eigentlich grundsätzliche Opposition? Es ist dies eben nichts anderes als der Widerstand auch dort, wo wir noch nicht die Macht haben, die Verhältnisse zu ändern. Gerade weil wir in der kapitalistischen Gesellschaft das Tun und Lassen der herrschenden Mächte nicht verhindern können, so bekämpfen wir sie wenigstens prinzipiell, indem wir unser Teil der Verantwortlichkeit für ihren Bestand ablehnen. Darin liegt ja die ganze „Grundsätzlichkeit“ des sozialdemokratischen Kampfes in der bürgerlichen Gesellschaft, daß wir ihr wenigstens unsere Unterstützung überall dort verweigern, wo wir die Dinge nicht verhindern können.

Wir können aber heute und in absehbarer Zeit gewiß den ganzen kapitalistischen Staat in seinem Bestehen nicht verhindern und müßten deshalb, wollten wir nach der bayerischen Regel verfahren, ihn auch überall da unterstützen, wo für uns dabei ein Vorteil herausschaut. Man braucht

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[1] Protokoll des Parteitages in Hamburg, 1897, S. 137, Rede Schippels. [Fußnote im Original]