Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 491

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So stellt sich bereits die ganze offizielle gesellschaftliche Wissenschaft in Deutschland in dem letzten Viertel des Jahrhunderts als eine große „Überwindung“ von Marx dar, Marx als die geheime Ursache ihrer ganzen Existenz. Allein es tragen alle diese ökonomischen, soziologischen und philosophischen „Schulen“ der Überwinder ein ausgeprägtes Merkzeichen an sich: Sie sind alle nicht zur Überzeugung der natürlichen Marx-Anhänger, der Volksklassen, sondern bloß zur Selbstberuhigung oder wenigstens Selbstbetäubung der natürlichen Marx-Gegner, der Bourgeoisie, bestimmt. Eine gewisse öde Langeweile einer Gesellschaft, die sich nur unter sich und für sich unterhält und von vornherein bereit ist, an alles ohne Unterschied, was nur gegen den verhaßten Marx gerichtet ist, zu glauben, lastete auf all dem hochtrabenden und dunklen Professorengerede eines Roscher wie eines Böhm-Bawerk, eines Schmoller[1] wie eines Stammler. Durch all den Dünkel der „Wissenschaftlichkeit“, der Selbstzufriedenheit, der gegenseitigen Bewunderung der kleinen Clique auf dem Katheder schimmerte ein unbehagliches Bewußtsein von der tiefen, stummen Verachtung seitens der großen Marx-Gemeinde in der Arbeitswerkstatt durch. Hinter dem orakelhaftesten Gerede der „historischen Schule“ kicherte boshaft der unbarmherzige Marxsche Spott, und die eifrigsten sozialreformerischen Wortergüsse des Kathedersozialismus überdröhnte höhnisch der feste Schritt der Sozialdemokratie.

Es war eben einfach eine „Verdauungswissenschaft“, eine Wissenschaft zur Beförderung der Verdauung des Mehrwerts, ohne die geringsten Ansprüche oder Hoffnungen, jemals von den Produzenten des Mehrwerts beachtet zu werden.

Plötzlich geschah aber etwas Unerwartetes. Das gewaltige Wachstum der Sozialdemokratie in die Breite führte unter anderen Ergebnissen zum Aufkommen der opportunistischen Strömung in den letzten Jahren. Der Opportunismus seinerseits mußte in seiner Opposition gegen den revolutionären Charakter der proletarischen Bewegung natürlicherweise all dieselben Schritte, richtiger Rückschritte, durchmachen, die Jahrzehnte vor ihm bereits die bürgerliche Wissenschaft durchgemacht hatte. Und auf einmal erblickten sich all die guten Leute, die die theoretische Bekämpfung der Sozialdemokratie auf dem Katheder als besoldeten Beruf innehaben, zu ihrem eigenen Staunen mitten ins Lager der Sozialdemokratie übertragen. In den Theorien Bernsteins und seiner Anhänger lebten plötzlich die durch langes und zweckloses Reden bereits längst verstorbenen und vermoderten, von sich selbst begrabenen und vergessenen Kathedersozialisten, leb-

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[1] Gemeint sind Gustav Schmoller, Adolph Wagner und Lujo Brentano als die führenden Vertreter des Kathedersozialismus (Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstand an deutschen Universitäten eine Richtung in der Sozialpolitik, die versuchte, die Arbeiterschaft durch Reformvorschläge und sozialpolitische Maßnahmen vom Klassenkampf abzuhalten.), die bürgerlich-liberale Reformvorschläge als sozialistisch propagierten, mit dem Ziel, dem Einfluß der Sozialdemokratie entgegenzuwirken und den Marxismus ideologisch zu bekämpfen.