Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 492

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ten die „Subjektivisten“, lebte das Stammlersche flatterhafte „soziale Ideal“, das sich, wie ein neckischer Schmetterling, nie fangen läßt („Das Endziel ist mir nichts, die Bewegung“ – das Fangen – „alles.“[1]), wieder auf. Selbstverständlich verändert sich der innere Charakter der bürgerlichen Verdauungswissenschaft dadurch, daß sie einige verirrte und konfus gewordene Sozialdemokraten nachbeten, nicht im mindesten. Und selbstverständlich fallen die Mauern des Marxismus ebensowenig, weil nun die bürgerliche Trompete von sozialdemokratischen Freiwilligen geblasen wird.

Allein, solange die Partei diesen Tatsachen keinen offiziellen und unzweideutigen Ausdruck gegeben hat, wiegt sich der ganze Schwarm der bürgerlichen Marx-Überwinder in der süßesten Täuschung: Sie scheinen, was ihnen nie im Traum eingefallen ist, in der Sozialdemokratie selbst Schule zu machen, ja sie fangen am Ende selbst an, an ihre Marx-Überwindung, an sich selbst zu glauben!

Das opportunistische Lüftchen in unserer Partei ist es, das in den letzten Monaten die hohlen Nüsse der bürgerlichen Betrachtungen über die „Krisis des Marxismus“ mit solcher Intensität regnen läßt. Das Lied ist alt, neu daran ist aber der Glaube und die Hoffnung. Und auch die Liebe. Denn sogar der junge Simkhowitsch verspricht uns, falls wir dem überwundenen Marxismus gänzlich abschwören, uns nicht ganz vergessen, sondern „mit den Hungrigen das Brot teilen“ zu wollen.

Die eintönigen und langweiligen „Betrachtungen“ der Professoren und ihrer frommen Schüler über die häuslichen Dinge in der Sozialdemokratie einer ernsten Antwort würdigen wäre der Gipfel der Abgeschmacktheit. Aber ihnen wieder den alten Respekt, die alte gehörige Selbstverachtung beizubringen, und zwar durch eine gründliche Abfuhr, das ist die Sozialdemokratie dem Andenken von Marx schuldig. Daß hierbei Sozialdemokraten selbst in Frage kommen, ist eine traurige Notwendigkeit.

Leipziger Volkszeitung,
Nr. 167 vom 22. Juli 1899.

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[1] „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialismus’ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ (Eduard Bernstein Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft. In: Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Erster Band, S. 556.)