Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 490

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/490

die gesellschaftliche Erscheinungen nicht aus den äußeren Verhältnissen von Menschen untereinander, sondern aus den Tiefen der menschlichen Einzelseele erklären und auf diese Weise die gefährlichen Konsequenzen der bürgerlichen Beziehungen aufheben will.

Es blieb bei alledem notwendig, angesichts des sozialdemokratischen Kampfes auch mit den von Marx einmal aufgedeckten klaffenden Wunden der bürgerlichen Ordnung in dieser oder jener Weise abzurechnen. Und dies besorgte der Brentanosche Kathedersozialismus[1], diese „Spottgeburt aus Dreck und Feuer“.

Die nämliche Entwicklung wie die Nationalökonomie macht auch die Philosophie, namentlich ihr soziologischer Teil, durch. Wie die klassische Ökonomie durch Smith und Ricardo, so hatte die klassische Philosophie durch Hegel und Feuerbach konsequenterweise zu Marx, die Dialektik und der Materialismus zur materialistischen Geschichtsauffassung geführt. Es galt also ganz analog zur „Überwindung“ der Forschungsmethoden der ökonomischen Klassiker auch die Hauptergebnisse der klassischen Philosophie: die Dialektik und den Materialismus, zu überwinden. Da aus Hegel die philosophischen Wege nun einmal unvermeidlich in die gefährlichsten Räuberhöhlen von Feuerbach und Marx führten, so blieb den bürgerlichen Philosophen nichts anderes übrig, als einfach durch einen Ukas Hegel in der Entwicklung der Philosophie zu annullieren und die Wissenschaft „auf Kant“ zurückhufen zu lassen.

Am schwierigsten war aber die „Überwindung“ des historischen Materialismus. Nach langem Drehen und Wenden erfand die bürgerliche Soziologie endlich mit Hilfe Stammlers, um der Anforderung aller modernen Geschichtsauffassung, dem Monismus, d. h. der Einheitlichkeit, Genüge zu tun, zugleich aber den gefährlichen Konsequenzen der materialistischen Lehre aus dem Wege zu gehen, einen neuen, der ganzen klassischen Philosophie unbekannten „Monismus“, der darin besteht, daß er alle Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens in dem Professorenhirn zu einem unterschiedslosen Brei verreibt, also weder materialistisch noch idealistisch, sondern einfach Nonsens ist, und der als Schätzungsmaßstab der sozialen Bestrebungen nach ihrer Berechtigung nur ein „formales soziales Ideal“ aufzustellen weiß, an dem das schönste ist, daß es nie verwirklicht werden kann.

Nächste Seite »



[1] Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstand an deutschen Universitäten eine Richtung in der Sozialpolitik, die versuchte, die Arbeiterschaft durch Reformvorschläge und sozialpolitische Maßnahmen vom Klassenkampf abzuhalten.