Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 473

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Auf dem Festlande im Gebrauch sind. Verhaftungen, Prozesse mit drakonischen Urteilssprüchen, Deportationen, massenhaftes Aufgebot von Spionen, Polizei und Militär bei Arbeiterdemonstrationen, Klassenjustiz, polizeiliche Willkür, mit einem Worte, alle Formen der brutalen Niederknüppelung der aufstrebenden Arbeiterklasse und ihrer bescheidensten Forderungen nach Sozialreformen bietet uns das erste halbe Jahrhundert der englischen Arbeiterbewegung.[1] Derselbe Staat, der schon damals wie heute keinen Militarismus, keine Bürokratie, keinen Bauernstand hatte, fand doch vollauf Mittel, der Arbeiterbewegung mit gewaltsamer Unterdrückung zu begegnen. Wenn wir also seit Mitte des Jahrhunderts andere Methoden der Behandlung der Arbeiterklasse in England sehen, so hängt dies nicht mit jenen Eigentümlichkeiten seines politischen Lebens, sondern mit anderen Umständen zusammen, die erst im Laufe der Zeit aufgetreten waren.

In den Verhältnissen Englands hatten tatsächlich um die fünfziger Jahre wichtige Veränderungen Platz gegriffen, und zwar nach zwei Seiten hin. Vor allem gelangte um diese Zeit die englische Industrie zur ungeteilten Herrschaft auf dem Weltmarkt. Bis zu Ende der vierziger Jahre hatte die englische Produktion sehr häufige und heftige Stockungen durchzumachen, seit den fünfziger Jahren beginnt ein steter und starker Aufschwung. Dieser versetzte die ganze englische Unternehmerklasse in die Lage, in der sich ein einzelner Industrieller bei flottem Geschäftsgang befindet: Streitigkeiten mit der Arbeiterschaft, der permanente industrielle Krieg, wie er ehedem dauerte, wurden ihr höchst ungelegen und das Interesse an geordneten Verhältnissen, an Stabilität und „sozialem Frieden“ ein dringendes.

Dementsprechend sehen wir auf seiten des Unternehmertums sogleich einen Umschwung in den Methoden der Kriegführung, aus Machtfragen werden die Streitigkeiten mit der Arbeiterschaft zu Gegenständen der Verhandlungen, der Einigung, der Konzessionen. Die goldene Ära der Industrie macht die Zugeständnisse an die Arbeiter ebenso notwendig im Interesse des ungestörten Geschäftsganges wie auch materiell unfühlbar. Wenn in der ersten Epoche die brutalsten Scharfmacher à la Stumm[2] die englische Bourgeoisie vertraten, ist ihr richtiger Wortführer in dieser Epoche jener Unternehmer, der im Jahre 1860 sagt: „In den Streiks sehe ich sowohl das Aktionsmittel wie das unvermeidliche Resultat der kommerziellen Verhandlungen über den Ankauf von Arbeit.“[3]

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[1] Webb: Geschichte der Gewerkvereine, S. 50–130. [Fußnote im Original]

[2] Karl Freiherr von Stumm. Großindustrieller und Freund Wilhelms II., Mitbegründer und Führer der Deutschen Reichspartei, sowie Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, Staatssekretär im Reichsamt des Innern und Vizekanzler von 1897 bis 1907, verfochten als schärfste Gegner der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie die Anwendung brutalster Gewalt bei der Unterdrückung der Arbeiterklasse.

[3] Webb: Theorie und Praxis der englischen Gewerkschaften, I, S. 196. [Fußnote im Original]