Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 469

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Fronaufsehers oder unter der Last der Arbeit und des Elends zusammenbrach, da lag wenigstens das Verbrechen des Menschen am Menschen, der Gesellschaft am einzelnen offen, entblößt, schrecklich in seiner Nacktheit, himmelschreiend in seiner Brutalität. Der gekreuzigte Sklave, der gemarterte Leibeigene starb mit einem Fluche auf den Lippen, und sein verlöschender Blick traf haßerfüllt und Rache verkündend seine Peiniger.

Erst die bürgerliche Gesellschaft breitete über ihre Verbrechen den Schleier der Unsichtbarkeit. Erst sie sprengte alle Bande zwischen den Menschen und überließ den einzelnen seinem Schicksal, seinem Elend und seinem Verderben, um sich seiner erst nach seiner Entmenschung – geistigen oder leiblichen, durch Mord oder Selbstmord – zu erinnern. Erst sie zwang den Menschen, sich selbst zu entleiben und seine Kinder zu morden – im hellen Sonnenlicht, mitten auf lärmender Marktgasse, mitten im eintönigen stumpfsinnigen Gepolter und Gerassel der Alltäglichkeit, die nicht eine Sekunde bei dem Gefallenen hält, die nicht eines Blickes seine Leiche würdigt. Erst die bürgerliche Gesellschaft hat ihrem Massenmord den Schauder genommen, weil sie ihn alltäglich gemacht, bei den Opfern wie bei den Peinigern die Sinne abgestumpft hat, das Drama des menschlichen Daseins durch die menschliche Trivialität, den Schrei eines Untergehenden durch die Arie der Drehorgel, die Leiche eines Gefallenen durch den Staub der Großstadt deckend.

Und wir selbst, überfliegen wir nicht mit gelangweiltem Blick jeden Tag die „vermischten Nachrichten“ auf vorletzter Seite unserer Tageszeitung, diesen großen Müllkasten, in dem der Abfall der bürgerlichen Gesellschaft – Diebstahl, Mord, Selbstmord, Unfall – tagtäglich abgeladen wird? Gehen wir nicht in stumpfsinniger Ruhe an die Arbeit und von der Arbeit ins Bett? Und glauben wir nicht im stillen, weil uns der Friseur mit näselnder Stimme behaglich von einem Einbruch im gegenüberliegenden Hause erzählt, weil die Züge der elektrischen Bahn mit mechanischer Regelmäßigkeit durch die Straße rasseln, weil die Bäume in den Anlagen knospen und blühen, wie wenn alles in schönster Ordnung wäre, weil jeden Abend in der Oper die Vorstellung ruhig in Szene geht, glauben wir denn nicht selbst im stillen, daß die Geschichte noch eine Weile in diesem Trab weitergehen könne, daß nichts Besonderes geschehen und daß wir allenfalls unseren Schoppen in Seelenruhe noch trinken können?

Und doch fällt in jedem Augenblick irgendwo neben uns ein Opfer, unverschuldet, hilflos, verlassen, mit einem furchtbaren Rätsel im Herzen, mit einer schrecklichen Frage auf den Lippen, mit einem erstaunten, hoffnungslosen Blick auf dies millionenköpfige und doch kopflose, mit Millio-

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