Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 468

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mit hellem metallischem Klang. Eine Drehorgel begann die Trinkarie aus der „Traviata“ und unterbrach sie plötzlich bei der barschen Verweisung des Portiers. Von der Straße drang ins Zimmer das Rasseln der vorüberfahrenden Pferdebahn. Das Großstadtleben keuchte und polterte ringsumher. In der gleichen Stadt, auf derselben Straße, in demselben Hause, Wand an Wand, nur einen Schritt entfernt, wimmelten die Menschen, ging eifrig jeder seinen Tagesgeschäften nach, lief jeder seine Lebensfährte, und keine Seele kümmerte sich um dies mit dem Verbrechen, mit dem. Tode ringende Menschenleben, niemand warf einen Blick auf das Elend, auf den Untergang dreier lebender Wesen. Nur eine dünne Wand, nur einige Schritte trennten den Unglücklichen von seinen Mitmenschen, und doch lag zwischen ihm und ihnen ein unüberbrückbarer Abgrund. Es waren dieselben Menschen, sie sprachen dieselbe Sprache, waren vom gleichen Lande, und doch, wären sie vom anderen Weltteil, von anderer Rasse, wären sie vom Monde, er konnte ihnen nicht fremder, nicht gleichgültiger, unbekannter sein. Die „Gesellschaft“, die Zusammenfassung der Einzelmenschen zur „höheren Einheit“, das „organische Ganze“ war in jenem Augenblicke eine freche Lüge, ein Phantom, sie existierte nicht, sie war nicht da, „die Gesellschaft“, das verlöschende Menschenleben mit seiner schrecklichen Qual bebte ganz allein da, mit niemand verbunden, von keinem Ganzen umfaßt, an niemand gegliedert und gesellt, von allen getrennt und verlassen, auf sich selbst angewiesen, mitten im Menschengewühl wie ein Ertrinkender im fernen Ozean, wie ein im Luftraum wirbelndes Stäubchen. Von der ganzen Menschheit abgefallener Splitter, rang er in der Einsamkeit, in der geistigen und leiblichen Finsternis, und starb hilflos in seiner unumschränkten „individuellen Freiheit“, fiel, „ein Freier“ im Kampfe ums Dasein, brach, ein großer Herr, ein Kulturmensch, auf seinem Elendslager zusammen, wie ein von allen verstoßener Hund auf einem Kehrichthaufen verreckt.

Und erst als der schreckliche Frevel gegen die Natur, als der Kindermord und der Selbstmord geschehen war – da wurde die „Gesellschaft“ zur Wahrheit, die Fiktion zur Realität. Sie schritt gravitätisch heran, die „Gesellschaft“, mit Schutzmannsuniform und Säbel, sie machte ihre Rechte als das „Ganze“, als die „höhere Einheit“ geltend: Sie nahm die Menschenleichen in Beschlag, sie protokollierte das ausgespielte dreifache Lebensdrama und eröffnete eine Untersuchung, um über den geschehenen Frevel ihr Urteil zu fällen.

Als der antike Sklave, von seinem Herrn an das Kreuz geschlagen, in unsäglicher Qual sich krümmte, als der Leibeigene unter der Rute des

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