Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 45

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hängigkeit von diesen für Rußland produzierenden Industriezweigen. Und es sind wohlgemerkt diejenigen Produktionszweige, die in jedem kapitalistischen Lande die Grundpfeiler der Großindustrie bilden – die Eisen-und Textilindustrie, die den Absatz Polens nach Rußland darstellen.[1] Die russischen Märkte wurden somit zum Lebensnerv des polnischen Kapitalismus und damit der ganzen modernen Entwicklung Polens.

Die Abhängigkeit der polnischen Industrie von den russischen Märkten wurde schon längst und mehrmals konstatiert. Jedoch man muß zugestehen, die russische Regierung wußte leider diese Tatsache viel tiefer und richtiger aufzufassen als manche polnischen Sozialisten. Diese zogen aus der fraglichen Erscheinung gewöhnlich den einzigen Schluß, daß die polnische Bourgeoisie keine Neigung zum Nationalismus habe. Das heißt aber die ganze objektive und dialektische Seite der Erscheinung übersehen: die Rückwirkung des polnisch-russischen ökonomischen Verkehrs auf die ganze soziale Struktur in Polen und ferner die tiefgehenden Ergebnisse dieses Verkehrs in seiner Entwicklung für die Frage der polnischen Unabhängigkeit. Diese Seite wurde bis jetzt wenig berücksichtigt, und doch ist vielleicht gerade hierin das entscheidende Moment bei Beurteilung der polnischen Frage zu suchen.

Die allgemeine Tendenz des Kapitalismus, in jedem Staate alle seine Teile in Verbindung und Abhängigkeit voneinander zu bringen, fand in bezug auf Polen und Rußland – da die Zollgrenze zwischen beiden bereits abgeschafft worden war – keine Schranken. Einerseits brachte sie in Polen die Landwirtschaft, das Handwerk, den Handel in die engste Abhängigkeit von der Großindustrie, die sie zur Zentralachse der gesamten Wirtschaft machte, andererseits fügte sie diese Achse fest in den Gesamtmechanismus der russischen kapitalistischen Wirtschaft hinein. Produktion, Austausch, Transportwesen, alles dies verwickelte sich in Polen und in Rußland in einen einzigen festen Knoten. Man kann jetzt keinem dieser Faktoren in Polen ernst an den Leib rücken, ohne gewisse Interessen in Rußland tief zu verletzen und umgekehrt. Jede Konjunktur der russischen Wirtschaft spiegelt sich treu in der polnischen wider und vice versa. Polen und Rußland verwandeln sich in einen einzigen ökonomischen Mechanismus. Dieses Verwachsen hält vollständig Schritt mit der Entwicklung des Kapitalis-

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[1] Wir stützen uns hierin auf die „Berichte der Kommission zur Untersuchung der polnischen Fabrikindustrie“, St. Petersburg 1888, und andere offizielle Berichte. Der deutsche Leser kann auch einiges in den „Diplomatic and Consular Reports an Trade and Finance“. Nr. 128, S. 6, u. Nr. 321, S. 7, finden. Von den Erzeugnissen der ganzen Textilindustrie Łódź (polnisches Manchester) wurden in den Jahren 1886 und 1887 fast drei Viertel von Rußland und nur ein Viertel von Polen selbst konsumiert. [Fußnote im Original]