Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 44

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tion, wo sie pilzartig emporschoß. Es begann eine fieberhafte Epoche der Neugründungen in Polen, und die Produktion gelangte in zwanzig Jahren (1870–1890) zu einer Höhe, die um das Dreifache alles übertrifft, was auf dem Gebiete der Industrie während des ganzen vorhergehenden Jahrhunderts geleistet worden war. Łódź, Sosnowiec werden in fünfundzwanzig resp. fünfzehn Jahren aus Dörfern zu großen Fabrikstädten. Das kleine Kongreßpolen[1] mit 8 ½ Millionen Einwohnern gelangt zu einer Produktion, die den Wert von 300 Millionen Rubel jährlich präsentiert.[2]

Wir haben die Faktoren der Entwicklung des polnischen Kapitalismus kurz aufgezählt, aber der Grundfaktor derselben waren und sind die russischen Absatzmärkte. Ganz parallel mit den Linien der Eisenbahnen schreitet der polnische Absatz immer tiefer nach Rußland hinein, und man kann dieses Vorschreiten an der sprungweisen Erweiterung der Produktion genau verfolgen. Zwei Dritteile der polnischen Erzeugnisse werden direkt von Rußland konsumiert, die übrige Industrie befindet sich in nächster Ab

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[1] Kongreßpolen bzw. Königreich Polen: Im Ergebnis der drei Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795 waren die Westgebiete an Preußen und Galizien samt Krakau an Österreich gegangen, das sogenannte Kongreßpolen bzw. „Königreich Polen“ wurde auf dem Wiener Kongreß von 1815 in Personalunion mit Rußland verbunden. Nach dem niedergeschlagenen polnischen Aufstand von 1863 behandelten die zaristischen Behörden jedoch die annektierten polnischen Gebiete nicht mehr weiter als »Königreich«, sondern als bloße Provinzen, die sie administrativ aufspalteten. Die Bezeichnung „Polen“ wurde verboten und nur noch vom „Weichselland“ gesprochen. Zugleich wurde eine Politik der „Russifizierung“ verfolgt. – Im Ausland galt »Kongreßpolen« weiterhin als Synonym für den russisch besetzten Teil Polens. Rosa Luxemburg und Leo Jogiches hingegen zogen den Begriff vom 1867 aufgelösten »Königreich Polen« vor, der einerseits die Gleichberechtigung Polens gegenüber Rußland betonte, andererseits die Unabhängigkeit von den Signatarmächten des Wiener Kongresses – „Kongreßpolen“ – signalisierte. Dementsprechend nannten sie ihre 1893 gegründete Partei „Sozialdemokratie des Königreiches Polen“ (SDKP). 1900 wurde daraus die „Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauens“ (SDKPiL).

[2] Aus Rücksichten auf den Raum müssen wir aus dem reichen Material, das offizielle und andere Berichte zu diesem Punkte bieten, nur einige wenige Angaben herausgreifen:

1871 1890 + Prozent
Gesamtwert der Produktion in Millionen Rubel 66,7 210,0 + 215
Gesamtwert der Textilproduktion in Millionen Rubel 18,8 100.0 + 432
(1891)
Eisen- und Stahlproduktion in Millionen Pud 0,9 7.5 + 733
Kohlenproduktion in Millionen Pud 12,6 151,0 + 1098

Die Zahl der Spindeln in der Baumwollindustrie ist im Zeitraum von zehn Jahren (1877–1886) gestiegen von 216 640 auf 505 622 (+ 134 Prozent). Im gleichen Zeitraum zeigt die Zahl der Spindeln in der russischen Baumwollindustrie eine Vermehrung von 32 Prozent, in der nordamerikanischen (1881–1891) um 29 Prozent, in der englischen um 8 Prozent. – Von den größten polnischen Fabriken wurden, wie eine im Jahre 1886 veranstaltete Enquete zeigte, bis 1860 25 Prozent, von 1860 bis 1886 75 Prozent errichtet. – Die Produktion von Łódź, Hauptzentrum der Textilindustrie, war im Jahre 1860 2,6 Millionen Rubel, im Jahre 1888 40,0 Millionen. Die Produktion von Sosnowiec war im Jahre 1879 0,5 Millionen Rubel, im Jahre 1885 13,0 Millionen. In den letzten zehn Jahren ist Sosnowiec zum Hauptpunkt der Eisen- und Kohlenindustrie Polens geworden. – Die Industrie ist tatsächlich weit größer als aus den offiziellen Angaben hervorgeht. So z. B. beläuft sich der Gesamtwert der Produktion für das Jahr 1890 nicht auf 210 Millionen Rubel, sondern, wie dies zahlenmäßig festgestellt werden kann, auf 300 Millionen. Somit übersteigt jetzt die industrielle Produktion Polens – nach ihrem jährlichen Werte gemessen – dem Werte nach die Getreideproduktion fast um das Dreifache. Nach der Zusammenstellung der Getreideeinfuhr (aus Rußland) und der Getreideausfuhr in Polen ergibt sich schon ein Defizit der Produktion, das durch den Überschuß der Einfuhr gedeckt wird. Polen, der ehemalige Speicher Europas, ist also zum rein industriellen Lande geworden. – Alle obigen Angaben wurden folgenden Quellen entnommen: J. G. Bloch: Die Industrie Kongreß-Polens 1871–1881, Warschau 1884, S. 17 u. 151 ; Geschichtlich-statistische Rundschau der Industrie Rußlands, St. Petersburg 1883, Bd. I, Tabellen XI u. XV ; Offizieller Bericht zur Ausstellung in Chicago 1893, Band über „Die Fabrikindustrie Rußlands“, S. 32 f. u. 13; Materialien zur Handels- und Industriestatistik Rußlands für das Jahr 1891. St. Petersburg 1894, S. 124–147; Bericht zur Ausstellung in Chicago 1893. Band über „Bergbau Rußlands“, S. 59 f. u. 91; J. Janshul: Abriß der Geschichte der Fabrikindustrie Polens, Moskau 1887, S. 6 u. 39; A. S.: Moskau und Łódź, St. Petersburg 1889. S. 17. [Fußnote im Original]