Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 43

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ter dieser Bestrebungen in Polen nach der Rolle, die man ihnen in den internationalen Verhältnissen in Europa zuweist. Unseres Erachtens wäre es richtiger, umgekehrt die Rolle der Bestrebungen zugunsten der Einigung Polens für Europa aus dem Charakter abzuleiten, den sie in Polen selbst kraft seiner sozialen Verhältnisse haben müssen. Wir wollen diese Verhältnisse kurz skizzieren, wobei wir uns mit demjenigen polnischen Lande beschäftigen, das hier vor allem in Betracht kommt – mit Russisch-Polen.

Die Bauernreform von 1864[1] bildet den Abschluß der Epoche der adeligen nationalen Kämpfe in Polen. Ohne den Bauern konnte der Adel über die russische Regierung nicht siegen. Der Sieg mit dem Bauern aber hatte zu seiner Voraussetzung die Abschaffung der Hörigkeit als das einzige Mittel, die Bauernschaft für die adelige Bewegung zu gewinnen – also die furchtbarste ökonomische Niederlage des Adels, die seinen politischen Sieg inhaltlos und den ganzen Kampf zum Unsinn gemacht hätte. An diesem Widerspruch mußten die adeligen Aufstände scheitern, und es war eben der Gegensatz zwischen dem Adel und dem Bauerntum, der der russischen Regierung die Rolle eines Tertius gaudens und die Möglichkeit gesichert hatte, den Adel im Schach zu halten und seine Bewegungen zu paralysieren. Das Schlußmoment des Kampfes – die Bauernreform – hat die wirtschaftliche Physiognomie des Landes vom Grunde aus verändert, die Produktionsbedingungen der adeligen Landwirtschaft umgestaltet und somit die soziale Grundlage, in der die nationalen Bewegungen ihre Wurzel hatten, weggespült.

Mit den sechziger Jahren gerät das bis dahin vorwiegend ackerbauende, naturalwirtschaftliche Polen, das bis 1851 durch eine Zollgrenze von Rußland getrennt war und im ganzen und großen ökonomisch abgeschlossen lebte, in den Strom der eigentlichen kapitalistischen Entwicklung: Die Großindustrie hält Einzug ins Land. Die Abschaffung der russisch-polnischen Zollgrenze, die Bauernreform in Rußland (1861) und das damit verknüpfte Umsichgreifen der Geldwirtschaft, der in den sechziger und siebziger Jahren in Angriff genommene kolossale Eisenbahnbau, der Polen mit allen Gegenden Rußlands in Verbindung gebracht, endlich die seit den siebziger Jahren immer steigende Schutzzollpolitik, die die inneren Märkte Rußlands der ausschließlichen Ausplünderung seitens der einheimischen Fabrikanten preisgegeben und ihnen 40- bis 60prozentige Profite gesichert, versetzte die polnische Industrie in ein Paradies der primitiven Akkumula-

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[1] Die zaristische Regierung war gezwungen, am 2. März 1864 die Leibeigenschaft in Polen aufzuheben und damit den polnischen Bauern ihre in den Kämpfen von 1863/64 erworbenen Rechte zu garantieren.