Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 422

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„gerechtere Verteilung“ als sein Zweck und die Idee der Gerechtigkeit als seine einzige geschichtliche Legitimation – mit wieviel mehr Kraft, mit wieviel mehr Geist, mit wieviel mehr Glanz vertrat doch Weitling vor mehr als 50 Jahren diese Sorte von Sozialismus! Allerdings kannte der geniale Schneider den wissenschaftlichen Sozialismus noch nicht. Und wenn heute, nach einem halben Jahrhundert, seine [ganze] von Marx und Engels in kleine Fetzen zerzauste Auffassung glücklich wieder zusammengeflickt und dem deutschen Proletariat als letztes Wort der Wissenschaft angeboten wird, so gehört dazu allenfalls auch ein Schneider, aber kein genialer.

Wie die Gewerkschaften und Genossenschaften ökonomische Stützpunkte sind, so ist die wichtigste politische Voraussetzung der Bernsteinschen[1] Theorie eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie. Die heutigen Reaktionsausbrüche sind ihm[2] nur „Zuckungen“, die er für zufällig und vorübergehend hält und mit denen bei der Aufstellung der allgemeinen Richtschnur für den Arbeiterkampf nicht zu rechnen ist[3]. [Es kommt aber nicht darauf an, was Bernstein auf Grund von mündlichen und schriftlichen Versicherungen seiner Freunde über die Dauerhaftigkeit der Reaktion denkt, sondern welcher innere objektive Zusammenhang zwischen der Demokratie und der tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung besteht.]

Nach Bernstein[4] erscheint die Demokratie als eine unvermeidliche Stufe in der Entwicklung der modernen Gesellschaft, ja die Demokratie ist ihm, ganz wie dem bürgerlichen Theoretiker der Liberalismus, das große Grundgesetz der geschichtlichen Entwicklung überhaupt, dessen Verwirklichung alle wirkenden Mächte des politischen Lebens dienen müssen. Das ist aber in dieser absoluten Form grundfalsch und nichts als eine kleinbürgerliche, und zwar oberflächliche Schablonisierung der Ergebnisse eines kleinen Zipfelchens der bürgerlichen Entwicklung, etwa der letzten 25-30 Jahre. Sieht man sich die Entwicklung der Demokratie in der Geschichte und zugleich die politische Geschichte des Kapitalismus näher an, so kommt ein wesentlich anderes Resultat heraus.

Was das erstere betrifft, so finden wir die Demokratie in den verschiedensten Gesellschaftsformationen: in den ursprünglichen kommunistischen Gesellschaften, in den antiken Sklavenstaaten, in den mittelalterlichen

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[1] 2. Auflage: revisionistischen.

[2] 2. Auflage: dem Revisionismus.

[3] 2. Auflage: sei.

[4] 2. Auflage: eingefügt „z. B.“.