Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 421

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verständlich auch eine „gerechte“ Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums an. Nur richtet sie ihren Kampf, dank der von Marx gewonnenen Einsicht, daß die jeweilige Verteilung bloß eine naturgesetzliche Folge der jeweiligen Produktionsweise ist, nicht auf die Verteilung im Rahmen der kapitalistischen Produktion, sondern auf die Aufhebung der Warenproduktion selbst. Mit einem Wort, die Sozialdemokratie will die sozialistische Verteilung durch die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise herbeiführen, während das Bernsteinsche Verfahren ein direkt umgekehrtes ist; er will die kapitalistische Verteilung bekämpfen und hofft auf diesem Wege allmählich die sozialistische Produktionsweise herbeizuführen.

Wie kann aber in diesem Falle die Bernsteinsche sozialistische Reform begründet werden? Durch bestimmte Tendenzen der kapitalistischen Produktion? Keineswegs, denn erstens leugnet er ja diese Tendenzen, und zweitens ist bei ihm nach dem vorher Gesagten die erwünschte Gestaltung der Produktion Ergebnis und nicht Ursache der Verteilung. Die Begründung seines Sozialismus kann also keine ökonomische sein. Nachdem er Zweck und Mittel des Sozialismus und damit die ökonomischen Verhältnisse auf den Kopf gestellt hat, kann er keine materialistische Begründung für sein Programm geben, ist er gezwungen, zu einer idealistischen zu greifen.

„Wozu die Ableitung des Sozialismus aus dem ökonomischen Zwange?“ hören wir ihn dann sagen. „Wozu die Degradierung der Einsicht, des Rechtsbewußtseins, des Willens der Menschen?“ (Vorwärts vom 26. März 1899.) Die Bernsteinsche gerechtere Verteilung soll also kraft des souveränen[1], nicht im Dienste der wirtschaftlichen Notwendigkeit wirkenden Willens der Menschen oder, genauer, da der Wille selbst bloß ein Instrument ist, kraft der Einsicht in die Gerechtigkeit, kurz, kraft der Gerechtigkeitsidee verwirklicht werden.

Da sind wir glücklich bei dem Prinzip der Gerechtigkeit angelangt, bei diesem alten, seit Jahrtausenden von allen Weltverbesserern in Ermangelung sicherer geschichtlicher Lokomotionsmittel[2] gerittenen Renner, bei der klapprigen Rosinante, auf der alle Don Quichottes der Geschichte zur großen Weltreform hinausritten, um schließlich nichts anderes heimzubringen als ein blaues Auge.

Das Verhältnis von arm und reich als gesellschaftliche Grundlage des Sozialismus, das „Prinzip“ der Genossenschaftlichkeit als sein Inhalt, die

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[1] 2. Auflage: freien.

[2] 2. Auflage: Beförderungsmittel.