Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 420

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haltung, die Vergrößerung des Anteils der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen Reichtum; dieser Anteil wird aber durch das Wachstum der Produktivität der Arbeit mit der Fatalität eines Naturprozesses beständig herabgedrückt. Um letzteres einzusehen, braucht man durchaus nicht ein Marxist zu sein, sondern bloß „Zur Beleuchtung der sozialen Frage“ von Rodbertus[1] einmal in der Hand gehabt zu haben.

In beiden wirtschaftlichen Hauptfunktionen verwandelt sich also der gewerkschaftliche Kampf kraft objektiver Vorgänge in der kapitalistischen Gesellschaft in eine Art Sisyphusarbeit. Diese Sisyphusarbeit ist allerdings unentbehrlich, soll der Arbeiter überhaupt zu der ihm nach der jeweiligen Marktlage zufallenden Lohnrate kommen, soll das kapitalistische Lohngesetz verwirklicht und die herabdrückende Tendenz der wirtschaftlichen Entwicklung in ihrer Wirkung paralysiert oder, genauer, abgeschwächt werden. Gedenkt man aber, die Gewerkschaften in ein Mittel zur stufenweisen Verkürzung des Profits zugunsten des Arbeitslohnes zu verwandeln, so setzt dies vor allem als soziale Bedingung erstens einen Stillstand in der Proletarisierung der Mittelschichten und dem Wachstum der Arbeiterklasse, zweitens einen Stillstand in dem Wachstum der Produktivität der Arbeit, also in beiden Fällen – ganz wie die Verwirklichung der konsumgenossenschaftlichen Wirtschaft – einen Rückgang auf vorgroßkapitalistische Zustände voraus.

Die beiden Bernsteinschen Mittel der sozialistischen Reform: die Genossenschaften und die Gewerkschaften, erweisen sich somit als gänzlich unfähig, die kapitalistische Produktionsweise umzugestalten. Bernstein ist sich dessen im Grunde genommen auch selbst dunkel bewußt und faßt sie bloß als Mittel auf, den kapitalistischen Profit abzuzwacken und die Arbeiter auf diese Weise zu bereichern. Damit verzichtet er aber selbst auf den Kampf mit der kapitalistischen Produktion[2] und richtet die sozialdemokratische Bewegung auf den Kampf gegen die kapitalistische Verteilung. Bernstein formuliert auch wiederholt seinen Sozialismus als das Bestreben nach einer „gerechten`, „gerechteren“ (S. 51 seines Buches), ja einer „noch gerechteren“ (Vorwärts vom 26. März 1899) Verteilung.

Der nächste Anstoß zur sozialdemokratischen Bewegung, wenigstens bei den Volksmassen, ist freilich auch die „ungerechte“ Verteilung der kapitalistischen Ordnung. Und indem sie für die Vergesellschaftung der gesamten Wirtschaft kämpft, strebt die Sozialdemokratie dadurch selbst-

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[1] Carl Rodbertus-Jagetzow, Nationalökonom, Ideologe des verbürgerlichten preußischen Junkertums, vertrat als Gegner des Marxismus staatskapitalistische Ideen.

[2] 2. Auflage: Produktionsweise.