Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 359

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tät in Lyon die Verkehrtheit der Marxschen Entwicklungstheorie nachweist, so glaubt man im ersten Augenblick durch Irrtum die Bernsteinschen „Probleme des Sozialismus“ in der „Neuen Zeit“[1] in die Hand genommen zu haben. Unheimlich gleichartig sind die Beweisgründe, womit einerseits Bernstein die „Zusammenbruchstheorie“ und anderseits der bürgerlich-katholische Professor die Zukunft des Sozialismus bekämpft.

Vor allem: „Die Lage der Arbeiterklasse hat sich in der letzten Zeit gehoben“, sie profitiert von dem allgemeinen Aufschwung des Kapitalismus.

Ferner: Die von Marx vorausgesagte Konzentration des Kapitals hat sich nicht bestätigt. Der Mittelstand geht nicht zugrunde. Ja fast Wort für Wort wiederholt Rambaud nach Bernstein (oder umgekehrt?): „Wir bestreiten gar nicht, daß dieser Mittelstand sich umbildet, daß immer mehr seiner Mitglieder aus selbständigen Unternehmern und Kaufleuten zu Lohnarbeitern werden.“ Aber auf der anderen Seite schafft dieselbe moderne großkapitalistische Entwicklung eine ganze Reihe neuer Existenzmöglichkeiten für den Mittelstand, der in letzter Linie nicht verschwindet, sondern im Gegenteil zunimmt.

Und was sind nach dem katholischen Professor die Mittel dieser kapitalistischen „Anpassung“? Wieder ganz übereinstimmend mit Ed. Bernstein: der Kredit, die Aktiengesellschaften usw.

Endlich findet Rambaud ganz wie Bernstein, daß, um mit dem letzteren zu reden, „das Bestreben, den Unternehmer loszuwerden, bei den Arbeitern gar nicht so groß sein dürfte“, daß es für sie viel vorteilhafter ist, in ihrer Stellung als Lohnarbeiter aus dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung Nutzen zu ziehen, als das Risiko und die Unannehmlichkeiten der selbständigen Leitung der gesellschaftlichen Wirtschaft zu übernehmen usw.

Mit einem Wort: Die Marxsche Analyse hat sich nicht bestätigt, die wirtschaftliche Entwicklung ist anders verlaufen, als Marx vorausgesagt, formulieren Bernstein und Rambaud einstimmig, nur ziehen sie daraus formell verschiedene Schlüsse: Bernstein über die Notwendigkeit, den revolutionären Sozialismus mit sozialreformerischen Bestrebungen zu vertauschen, der katholische Professor – über die Verkehrtheit des Sozialismus überhaupt. Konsequenter ist dabei allerdings der Professor.

Schon diese Übereinstimmung in der Auffassungsweise eines reaktionären amtlichen Feindes der Arbeiterklasse und Bekämpfers der Sozial-

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[1] Eduard Bernstein: Probleme des Sozialismus. In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 15. Jg. 1896/97, Erster Band, S. 164–171, 204–213, 303–311, 772–783; Zweiter Band, S. 100–107, 138–143.