Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 33

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Die auf einen zukünftigen Krieg gesetzten Hoffnungen können höchstens die Taktik der polnischen Sozialisten während des Krieges bestimmen, keineswegs aber ihr auf den täglichen Kampf berechnetes Programm. Auch nicht einmal diese Taktik läßt sich jetzt schon bestimmen, da uns sowohl der Moment des künftigen Krieges wie auch alle ihn begleitenden Umstände völlig unbekannt sind.

Die Äußerungen der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus können und dürfen somit nicht einmal als Fingerzeige für das praktische alltägliche Programm des polnischen Proletariats ausgelegt werden, weil sich dieselben nur auf die Eventualitäten der auswärtigen Politik und nicht auf den inneren Klassenkampf und die Ergebnisse des sozialen Entwicklungsgangs Polens beziehen. Überhaupt gehören diese Äußerungen ihrem Ursprung wie auch ihrem Charakter nach mehr in jene schöne Zeit, wo „Pole und Revolutionär – wenigstens in nationalem Sinne – identisch war“[1], wo zwischen einem polnischen Aufstand und dem anderen[2] das Land in beständiger Gärung sich befand. Jetzt gehört aber das eine wie das andere einer längst vergessenen Vergangenheit an, da sich seit jener Zeit in Russisch-Polen – dem Herzen Polens und dem Herd aller nationalen Erhebungen – keine geringere Tatsache vollzogen hat als die gänzliche Aufhebung der Hörigkeit und die Entwicklung der kapitalistischen Großindustrie. Damit wurden auch die sozialen Verhältnisse Polens auf den Kopf; gestellt. Der polnische „Revolutionär“ von 1848 – der Adel – machte ökonomisch und politisch Bankerott. Auf die Bühne trat eine neue Figur – der Bourgeois, der nun die erste Geige führt, und zwar darauf nicht das Nationallied „Noch ist Polen nicht verloren“, sondern die russische Hymne „Gott erhalte uns den Zaren“ spielt.

Wenn trotz alledem die seit dreißig Jahren eingefrorenen Trompetentöne der polnischen Aufstände plötzlich im Jahre 1893 aufgetaut und zu den Ohren der Anhänger des Sozialpatriotismus gedrungen sind, so ist das lediglich einer Illusion ihres politischen Gehörs zuzuschreiben. In der wirklichen Natur geschah ein solches Wunder nicht. In der Wirklichkeit denkt

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[1] „Daher aber, weil die Befreiung Polens von der Revolution unzertrennlich, weil Pole und Revolutionär identische Worte geworden sind, daher ist den Polen auch die Sympathie von ganz Europa und die Wiederherstellung ihrer Nationalität ebenso sicher wie den Tschechen, Kroaten und Russen der Haß von ganz Europa und der blutigste Revolutionskrieg des ganzen Westens gegen sie.“ (Karl Marx, Friedrich Engels: Der demokratische Panslawismus. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 6, Berlin 1959, S. 283.)

[2] Eine Welle von Bauernerhebungen 1860/61 führte zum Volksaufstand vom 22. Januar 1863 im Königreich Polen, in Litauen, Belorußland und Teilen der Ukraine gegen nationale und soziale Unterdrückung, der 1863/64 blutig niedergeschlagen werden konnte, weil keine nationale Führung bestanden hatte.