Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 32

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Jedenfalls mag man darüber dieser oder jener Meinung sein, aus den Äußerungen von Marx und Engels läßt sich höchstens die Wünschbarkeit der Wiederherstellung Polens ersehen. Die Sozialpatrioten vergessen aber, daß nicht alles, was wünschenswert, auch darum möglich, und nicht alles, was an und für sich möglich, auch speziell für das Proletariat möglich ist. Es waren aber keine anderen als gerade Marx und Engels, die die Arbeiterklasse zuerst gelehrt haben, nicht die bloße Wünschbarkeit, nicht den bloßen Willen, das Wünschenswerte zu erreichen, zum Triebrad all ihres Strebens zu machen, sondern als Kriterium desselben die wirklichen materiellen Verhältnisse der Gesellschaft in ihrer Entwicklung aufzufassen, die einzig bestimmen können, ob das Wünschenswerte auch möglich ist, und die das Mögliche auch historisch notwendig machen. Daß aber bei den so oft angeführten Äußerungen über die eventuelle Wiederherstellung Polens meistenteils nicht an die materielle Entwicklung Polens und eine daraus sich ergebende unmittelbare Aufgabe des Proletariats gedacht wurde, ist zweifellos. „Es wird eine gerechte Strafe für Preußen sein, wenn es dann (im Kriege mit Rußland – R. L.) zu seiner eigenen Sicherheit ein starkes Polen wiederherstellen muß“[1], sagt z. B. Engels. Nicht von dem polnischen Proletariat, nicht von seinem alltäglichen Klassenkampfe wird hier also gesprochen, sondern von Preußen, von der europäischen Diplomatie, von dem Kriege. Vom Kriege erwarten die Wiederherstellung Polens auch alle diejenigen, die sie als für Europa notwendig betrachten. Man mag nun über diese Erwartungen denken, wie man will, soviel ist jedenfalls klar:

Erstens, daß sie, mögen sie auch von Marx und Engels selbst ausgesprochen worden sein, doch nicht zu den Grundprinzipien, ja überhaupt nicht zu den Prinzipien der Sozialdemokratie gehören; und wenn man diese Äußerungen in bezug auf die Wiederherstellung Polens etwa zu Dogmen des Sozialismus machen und so indirekt auf Marx und Engels die Verantwortlichkeit für das sozialpatriotische Programm übertragen will, so riskiert man eben, das Wort von Marx auf sich angewendet zu sehen: „Sie haben nie auf die Ehre Anspruch gemacht, eigne Ideen zu besitzen: Was ihnen gehört, ist das eigentümliche Mißverständnis fremder Ideen, die sie als Glaubensartikel fixiert und als Phrase sich angeeignet zu haben meinen.“[2]

Zweitens, daß, solange Kriege sich nicht programmäßig und zur Zufriedenheit der sozialistischen Parteien abwickeln, die Resultate zukünftiger

Kriege nicht als Grundlage sozialistischer Programme dienen können.

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[1] l. c., S. 20. [Fußnote im Original]

[2] „Die Partei Schapper-Willich hat nie auf die Ehre Anspruch gemacht, eigne Ideen zu besitzen. Was ihr gehört, ist das eigentümliche Mißverständnis fremder Ideen, die sie als Glaubensartikel fixiert und als Phrase sich angeeignet zu haben meint.“ (Ebenda, S. 413.)