Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 323

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wirtschaftlicher Entwicklung und politischer Rückständigkeit aus dem geschichtlichen Strudel unversehrt aufzutauchen. Wie sehr diese Funktion zum Wesen des absoluten Regiments in Rußland geworden ist, beweist der Umstand, daß, während die Umbildung des mittelalterlichen Rußlands in ein modernes an der Schwelle des achtzehnten Jahrhunderts das Werk eines Genies war, während die Umbildung des naturalwirtschaftlichen Rußlands in ein auf Geldwirtschaft begründetes um die Mitte dieses Jahrhunderts immerhin eines Vollstreckers von hervorragendem Geist (Alexander II.) bedurfte, die gegenwärtige Europäisierung des verknöcherten russischen Kapitalismus und sein Hinausstoßen auf den Weltmarkt unter einem geistig minderjährigen Regime vorzüglich ausgeführt wird.

Endlich, nicht nur mit dem wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß, sondern auch mit dessen politischen Folgeerscheinungen in anderen Ländern weiß sich der russische Absolutismus glücklich abzufinden und danach seine internationale Stellung jedesmal zum eigenen Vorteil einzurichten. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zog er Nutzen aus den Überresten des absoluten Regimes in Westeuropa und stützte seine internationale Stellung auf die Beschützung dieses Regimes gegen die demokratischen Volksbewegungen. Heute, da die Demokratie überall endgültig – in größerem oder geringerem Maße – den Sieg davongetragen hat, hat sich auch die Stellung des Zarismus – und das würden auch unsere Parteipolitiker gut tun sich zu merken – gründlich verändert. Diejenigen, die ihn immer noch als den allezeit zum Angriff bereiten Feind der europäischen Demokratie betrachten, der nur auf die Gelegenheit lauert, das absolute Regime in Europa wiederherzustellen, stecken im Banne einer alten Vorstellung, die seit einem Jahrzehnt einer Revision bedarf.

Seitdem Rußland einen hervorragenden und ständigen Anteil an der europäischen Diplomatie nimmt, kommt ihm die demokratische Verfassung der europäischen Staaten, die ihren Regierungen in bezug auf finanzielle Mittel, auf Geheimhaltungen der diplomatischen Schacher etc. die Hände bindet, im höchsten Maße zugute. Der Zarismus zieht alle Vorteile aus seiner Lage, der einzige Absolutismus inmitten konstitutioneller Staaten zu sein, und er würde der letzte sein, sich heute über die Unterdrückung des Konstitutionalismus in Europa zu freuen. Für diesen Wandel in der internationalen Rolle des Zarismus seit der Heiligen Allianz ist es sehr bezeichnend, daß, während Rußland als Gast an einer westeuropäischen

Anti-Anarchistenkonferenz[1] am Tiber teilnimmt, es die euro-]

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[1] Unmittelbar nach dem Attentat eines Anarchisten auf die Kaiserin Elisabeth von Österreich am 10. September 1898 hatte die italienische Regierung Vertreter der europäischen Staaten für den 24. November 1898 zu einer Konferenz nach Rom eingeladen, um ein detailliertes System gemeinsamer Verteidigung gegen den Anarchismus auszuarbeiten.