Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 306

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/306

tionalismus, und etwa die letzten zwanzig Jahre vor seinem Tode (1855) dichtete Mickiewicz fast nichts mehr. „Herr Thaddäus“ ist sein letztes vollendetes Werk geblieben.

Dies war aber auch das letzte große Denkmal des polnischen Nationalismus. Nach der zweiten Niederlage (1861–1863)[1] wurde in Polen die bekannte Umwälzung des gesamten gesellschaftlichen Lebens durch die Abschaffung der Naturalwirtschaft und die Einführung der Großindustrie eingeleitet. Wie durch die Berührung einer Zauberrute verwandelte sich das ganze innere und äußere Leben Polens in kurzer Frist bis zur Unkenntlichkeit. Das heutige Polen hat mit dem Polen, in dem Mickiewicz dichtete, und noch mehr mit dem, das er besang, nicht viel mehr gemein als mit einem beliebigen anderssprachigen Fremdland. Das flache Land, die grünen Wälder und Wiesen, die den Fond der romantischen Poesie, der Adel, der ihre handelnden Personen bildete, sind in den Hintergrund getreten. Das heutige Polen ist das bürgerliche Polen der Großstadt. Und die heutige Feier der Enthüllung des Denkmals Mickiewicz´ in Warschau – des mit allerhöchster gnädigster Erlaubnis des Zaren aller Reußen von dem berufenen historischen Totengräber des polnischen Nationalismus, von dem polnischen Bürgertum, in dem industrialisierten, entnationalisierten Warschau errichteten Denkmals – soll nur in sinnfälliger Weise der Welt bekunden, daß für die offizielle polnische Gesellschaft, die Bourgeoisie, den Adel, die Masse des Kleinbürgertums, der Nationalismus endgültig zur Romantik, die Politik der Unabhängigkeit zur Poesie geworden ist. In Wilna, wo Mickiewicz aufwuchs, sang und wirkte – das Standbild Murawjows[2]; in Warschau, wo der russische Zar von der polnischen Gesellschaft soeben auf den Knien aufgenommen und gefeiert wurde[3] – das Standbild Mickiewicz´. „So endete der letzte Dichter des Nationalismus“, fügt die Geschichte, den Refrain Mickiewicz´ paraphrasierend, zu den zwölf Büchern des „Herrn Thaddäus“ das dreizehnte als Epilog.

In dem gegenwärtigen Polen, wo die deutsch-jüdisch-polnische Bourgeoisie der internationalste und antinationalste Typus der Kapitalistenklasse, wo der hohe Adel teils verbürgerlicht, teils bis zur geistigen Barbarei versimpelt, wo der niedrige Adel teils ins städtische Kleinbürgertum aufgelöst, teils verbauert, wo das Bauerntum unter das Kulturniveau

Nächste Seite »



[1] Eine Welle von Bauernerhebungen 1860/61 führte zum Volksaufstand vom 22. Januar 1863 im Königreich Polen, in Litauen, Belorußland und Teilen der Ukraine gegen nationale und soziale Unterdrückung, der 1863/64 blutig niedergeschlagen werden konnte, weil keine nationale Führung bestanden hatte.

[2] Michail Murawjow, berüchtigt als „Henker“ der Kämpfer vom Januaraufstand in Litauen, war von 1863 bis 1865 Generalgouverneurin Litauen und Belorußland.

[3] Siehe dazu Rosa Luxemburg: Von Stufe zu Stufe. In: GW, Bd. 1/1, S. 94–111.