herabgedrückt ist, bildet das klassenbewußte industrielle Proletariat die einzige Schicht, die ebenso ein Interesse wie die soziale Möglichkeit hat, zum Hüter der kulturellen Seite des politisch bankrotten Nationalismus zu werden. Es ist Brauch unter den polnischen Sozialisten, aus den Schriften Mickiewicz´ Belege für seine sozialistischen Ansichten um jeden Preis heranzuziehen. Wir finden wenig Geschmack in diesen Versuchen. Hängt doch der Anflug von utopischem Sozialismus, der bei Mickiewicz zum Ausdruck kam, mit jener unseligen Periode seines Lebens zusammen, wo sein dichterisches Genie bereits durch den Schleier des religiösen Mystizismus verdunkelt und erdrückt war.
Das aufgeklärte Proletariat ist daher unseres Erachtens geistig reif genug, um den großen Dichter um seines Dichtergenius willen zu lieben und zu verehren, und braucht nicht erst durch die unklaren mystischutopischen sozialen Vorstellungen seiner dichterischen Verfallsperiode bestochen zu werden. So eng darf der Horizont einer Klasse, die die Welt erneuern will, nicht sein. Mickiewicz war freilich auch in der Glanzperiode seines Schaffens aufrichtiger Demokrat, wie es die ganze Ideologie des ersten Aufstands war; aber Vertreter oder Vorläufer der modernen Arbeiterklasse und ihres Klassenkampfes war er nicht und konnte er auch nicht sein. Er war der größte und letzte Sänger des adeligen Nationalismus, aber als solcher auch der größte Träger und Vertreter der polnischen nationalen Kultur. Und als solcher gehört er jetzt der polnischen Arbeiterklasse, als solchen übernimmt sie ihn – sie, die allein dazu das Recht hat – als das größte geistige Erbstück des ehemaligen Polens. In Deutschland ist das klassenbewußte Proletariat, nach dem Ausdruck von Marx, der Erbe der klassischen Philosophie. In Polen ist es – kraft eines anderen historischen Zusammenhangs – der Erbe der romantischen Poesie, also auch ihrer größten Koryphäe, des Adam Mickiewicz.
Leipziger Volkszeitung,
Nr. 298 vom 24. Dezember 1898.