Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 304

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Gegensatz in der ökonomischen und politischen Lage und den Bestrebungen der beiden Schichten der „geborenen“ Gesellschaft (wie man in Polen sagte), trägt auch die von der Intelligenz des niederen Landadels vertretene geistige Strömung einen ganz verschiedenen Charakter. Nährt sich die offizielle Literatur des herrschenden Magnatentums von pseudoklassischen Motiven Frankreichs, so wendet sich die oppositionelle Literatur des niederen Adels den nationalen Motiven zu, und während die klassische die Gegenwart verherrlicht, wendet sich die nationale der Vergangenheit zu, die sie in mystischer Verklärung sieht, und findet ihre adäquate Form und das Vorbild in der deutschen Romantik.

Klassizismus und Romantik, das waren die in die Kunst verpflanzten Gegensätze, die in der Ökonomik wie in der Politik sich zuspitzten und die bald in Säbelgerassel und Flintengeknatter des Aufstandes ausklingen sollten. Gehörte aber der Sieg auf den Schlachtfeldern bei Grochôw und Praga den Vertretern der bestehenden Ordnung, der russischen Herrschaft, so mußten sie auf dem Schlachtfelde des Geistes den kürzeren ziehen. Während die „Klassiker“ nur eine graue Masse von Mittelmäßigkeiten, von geistlosen Handwerkern der Form in die Schranken stellten, zauberte die Romantik über Nacht ganze Plejaden junger glänzender Talente aus dem Schoße der Gesellschaft, und als glänzendster Stern dieser Morgendämmerung ging das mächtige Genie Adam Mickiewicz am Firmament der polnischen Literatur auf.

Chorführer und Sprachrohr einer ganzen Generation, war er – der Geistesrichtung, die er vertrat, entsprechend – zu gleicher Zeit Lyriker und Epiker, ebenso Barde der nationalen Liebe und Sehnsucht wie der objektive Maler der nationalen Vergangenheit.

Die beiden Hauptwerke, in denen er diesen Richtungen die unvergänglichsten Denkmäler schuf, sind: „Das Allerheiligenfest“ („Dziady“) und „Herr Thaddäus“ („Pan Tadeusz“). Noch nie hatten ehedem noch haben seitdem eine solche Kraft des Gefühls, Tiefe des Gemüts, titanische Verwegenheit des Geistes in polnischer Sprache gesprochen wie in dem „Allerheiligenfeste“, wo der Dichter in dem Allmachtsbewußtsein seiner Vaterlandsliebe den Weltschöpfer in die Schranken ruft. Und weder vorher noch nachher wurde das alte adelige Polen in seiner ganzen bunten Farbenpracht in einem so vollendeten Meisterwerk gemalt, wie es der „Herr Thaddäus“ ist. In seiner naiven Bescheidenheit glaubte der Dichter etwas in der Art des Goetheschen „Hermann und Dorothea“, das er sich auch anfänglich zum Muster nahm, geschaffen zu haben – ein Vergleich, der dem Leser nur ein Lächeln abgewinnen kann, da das Goethesche Epos

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