Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 303

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Die adeligen Stammsitze bleiben auch Mittelpunkte des geistigen und literarischen Lebens. Der Magnat ist immer noch der Mäzen der Künste, die Kunst, namentlich die Literatur, immer noch zum Teil Liebhaberei, Muße des „wohlgeborenen“ Dilettanten mit Degen oder in Soutane, zum Teil eine Form des geistigen Hoflakaientums.

Daß sich das geistige Leben unter den bezeichneten Umständen für die nationale Vergangenheit wenig begeisterte, ist klar. Sein Hauptmotiv, sein ganzer Charakter war vielmehr eine Nachahmung der Fremde. Namentlich das napoleonische Frankreich war die Quelle, aus der das damalige Polen schöpfte. In Frankreich selbst schritt aber damals der gepuderte Pseudoklassizismus auf Stelzen einher, und es war nur der blasse Abklatsch dieses Pseudoklassizismus, der nach Polen verpflanzt wurde, und dessen Merkmale glatte, steife, hohle Form und gänzlicher Mangel an Individualität, an innigem Gefühl und tiefen Gedanken waren.

Im Schoße dieser Gesellschaft bereitete sich aber vom ersten Augenblick auch ein Umschwung vor. Die 1807 von Napoleon im Herzogtum Warschau durchgeführte Aufhebung der Leibeigenschaft (ohne Regulierung der Fronlasten und der Grundbesitzverhältnisse), die Einführung des Code civil, die Gründung der Manufaktur, die Umwälzung in der Landwirtschaft (Übergang zum Fruchtwechselsystem), das neue bürokratische Verwaltungssystem, die starke Vergrößerung der Steuerlasten und das fiskalische Monopolsystem – dies waren die verschiedenartigen Gärungselemente, die im Innern der Gesellschaft wühlten und für neue Klassenkämpfe den Boden bereiteten. Während das Magnatentum, das den ganzen Verwaltungsapparat innehatte, und die damaligen Vertreter des Kapitals zu der bestehenden Ordnung, also zu Rußland, treu hielten, gärte in der Masse des Landadels und namentlich des besitzlosen Kleinadels eine heftige Opposition, die naturgemäß einen nationalen Charakter annehmen und sich der Vergangenheit als dem Ideal zuwenden mußte. Es bereitete sich der Aufstand von 1831[1] vor.

Gleichzeitig verändern sich auch die Bedingungen des geistigen Lebens. Nach der Zertrümmerung der alten Lebensnormen sah sich der kleine Adel gezwungen, nach neuen Laufbahnen zu suchen. Das neue bürokratische System machte eine Fachbildung zum Ernährungsmittel, die Schule, die Journalistik bekommt eine neue Bedeutung für den Adel, es entsteht in Polen eine neue Gesellschaftsschicht – die adelige Intelligenz. Diese betreibt die Literatur nun nicht mehr als Liebhaberei oder Hofdienst, wie es in den Magnatenkreisen der Fall war, sondern als Beruf. Gemäß dem

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[1] Eine Militärrevolte vom 29. November 1830 in Warschau verwandelte sich in einen Volksaufstand gegen die zaristische Fremdherrschaft. Mit der Einnahme von Warschau am 7. September 1831 durch zaristische Truppen wurde der Aufstand niedergeworfen.