Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 26

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nale Gefühl, an die historischen Überlieferungen und dergleichen appellieren.

Wie wäre dies auch anders möglich? Angesichts der mächtigen Bewegung der Sozialdemokratie in Deutschland und Österreich, in der alle Klassenbedürfnisse des Proletariats dieser Staaten, unabhängig von seiner Nationalität, zum Ausdruck kommen, würden die polnischen Sozialisten, um ihre Existenz als eine besondere Partei mit eigenem Programm behaupten zu können, notwendigerweise zu einer immer schärferen Betonung des nationalen Moments gedrängt werden. Die Parteiselbsterhaltung, die Gefahr, von dem allgemeinen Strom der sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland und Österreich verschlungen zu werden, müßte sie also sozusagen zur Nationalisierung ihrer ganzen Agitation drängen. Außer der Hervorhebung des nationalen Moments bei gleichzeitiger Vertuschung des Klassenstandpunkts müßten sie auch allen wichtigsten Parteiaktionen, welche vermöge der gemeinsamen Verhältnisse dem polnischen und nichtpolnischen Proletariat gemeinsam sein müssen, einen besonderen nationalen Stempel aufdrücken. Letzteres geschieht denn auch bereits seitens der Sozialpatrioten, die instinktiv im Geiste des von ihnen aufgestellten Programms z. B. die bei den Reichstagswahlen von 1893 in Posen und Schlesien abgegebenen polnischen sozialdemokratischen Stimmen als eine national-polnische Kundgebung auslegen. „Soundso viel Wähler“, sagen sie, „haben durch ihre Stimmabgabe für die polnisch-sozialistischen Kandidaten erklärt, fernerhin weder die deutsche Herrschaft noch die des nationalen Adels und der schwarzen Schar ertragen zu wollen“.[1] Nicht minder bezeichnend, setzen sie die polizeilichen Verfolgungen der polnischen Arbeiterbewegung seitens der deutschen Regierung nicht sowohl auf Konto der Klassenpolitik dieser letzteren als auf Konto der nationalen Unterdrückung, indem sie diese Verfolgungen als „Anwendung der deutschen Gesetze in den eroberten Provinzen“[2] auffassen.

Den auffallendsten Beleg aber für unsere Schlußfolgerung hat ein Beschluß des letzten Parteitags der Sozialdemokraten Galiziens (in Nowy Sącz, 28. und 29. September 1895) gebracht. Es wurde nämlich beschlossen, um die Einheit des polnischen Proletariats in allen drei Teilen Polens zu manifestieren, eine für alle diese drei Teile gemeinsame Maifestschrift ausfertigen zu lassen, und zwar von der Londoner Gruppe, die das Bulletin

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[1] Bulletin off., Nr. 1, S. 7. Es ist überflüssig, erst zu betonen, daß dies nur eine freie Auslegung ist, da doch die Wahlagitation im Jahre 1893 in ganz Deutschland von der deutschen Partei geleitet wurde, und die deutschen sozialdemokratischen Wahlschriften enthielten bekanntlich kein Wort über die Wiederherstellung Polens. [Fußnote im Original]

[2] Bulletin off., Nr. 1, S. 7. [Fußnote im Original]