Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 25

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Eine sozialistische Partei, die gegenwärtig das polnische Proletariat aller drei Staaten unter einem gemeinsamen politischen Programm vereinigen würde, könnte offenbar dieses Programm keinem derselben anpassen, d. h., sie müßte das politische Milieu in allen drei Staaten einfach ignorieren. Es wäre ganz dasselbe, wie wenn man das gesamte Proletariat Deutschlands, Österreichs und Rußlands in einer einzigen Partei mit einem gemeinsamen Programm vereinigen wollte. Die Absurdität eines solchen Unternehmens springt in die Augen. Und doch, wodurch unterscheidet sich von demselben der Plan einer allgemeinen polnischen Partei? Lediglich durch das in diesem Falle gemeinsame nationale Moment, welches jedoch für die Gemeinsamkeit des Programms gar nicht in Betracht kommt.

Wird aber das Programm den jeweiligen politischen Verhältnissen nicht angepaßt, werden dieselben vom Programm ignoriert, so müssen sich die Programmverfasser darauf gefaßt machen, ihrerseits von der lebendigen Wirklichkeit ignoriert zu werden. Ein gemeinsames Programm für das polnische Proletariat Deutschlands, Österreichs und Rußlands kann auch nur die polnische Bewegung in allen drei Ländern in eine gemeinsame Sackgasse sich festrennen lassen.

In der Tat. Unter den gleichen politischen Bedingungen wirkend wie die deutsche und österreichische Sozialdemokratie, müßten die polnischen Sozialisten dennoch an eine andere politische Hauptforderung appellieren als jene Parteien – nämlich an die Wiederherstellung Polens. Um nun diese Forderung den polnischen Arbeitern mundgerecht zu machen, müßten sie zum Ausgangspunkt ihrer Agitation selbstverständlich die Eigentümlichkeit der Lage des polnischen Proletariats gegenüber derjenigen des deutschen und österreichischen nehmen, zwischen jenem und diesen eine Scheidegrenze zu konstruieren suchen. Eine solche Scheidegrenze könnte aber unmöglich in der Klassenlage der polnischen Arbeiter, die sich in nichts von derjenigen anderer Proletarier in Deutschland und Österreich unterscheidet, gefunden werden. Sie müßten also zu diesem Zwecke das einzig Unterscheidende, das nationale Moment, in den Vordergrund schieben. Sie würden somit notwendigerweise dazu gedrängt werden, die Leiden der polnischen Arbeiter in Deutschland, die in ihrer mit den deutschen Arbeitern gemeinsamen Klassenlage wurzeln, oft durch ihre besondere Lage als Angehörige einer eroberten Nation zu erklären suchen. So müßten sie die nationale Unterdrückung – eine an sich für die Arbeiter untergeordnete Erscheinung – zur Hauptsache emporheben. In Österreich aber, wo die Polen nationale Freiheit genießen, müßten sie direkt an das natio-

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