Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 259

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reformen, die Demokratisierung des Staates, ob sie eine unmittelbare sozialisierende Wirkung haben, die durch einfachen sozialen Stoffwechsel die kapitalistische Gesellschaft unmerklich in eine sozialistische verwandelt, d. h., ob sie den Sozialismus stückweise verwirklicht – dies der Standpunkt des Opportunismus – oder ob der praktische Kampf bloß dazu dient, die Arbeiterklasse materiell zu konsolidieren, politisch zu organisieren und aufzuklären, um sie zu der Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft durch eine politische und soziale Umwälzung und zur Einführung des Sozialismus vorzubereiten. Was also wiederum in Frage steht, ist nicht der positive alltägliche Kampf selbst, der vielmehr gerade das politische Merkmal der Sozialdemokratie im ganzen im Unterschied vom Anarchismus bildet, sondern die Auffassung von der Tragweite, von den sozialen Folgen dieses Kampfes im Zusammenhang mit diesem oder jenem Gang der objektiven kapitalistischen Entwicklung.

Ebenso irrtümlich ist die andere Entgegenstellung des Genossen „gr.“ – die von „Katastrophen“ und „Entwicklung“. Hat Genosse „gr.“ seinen Hegel vergessen, so raten wir ihm, wenigstens das prächtige Kapitel im Engelssehen „Anti-Dühring“ über Quantität und Qualität nachzuschlagen, um sich zu überzeugen, daß Katastrophen nicht einen Gegensatz zur Entwicklung, sondern ein Moment, eine Phase der Entwicklung darstellen, daß, wer auf der Entwicklungslinie die „Knoten“ übersieht, ebensowenig das Wesen der Entwicklung erfaßt wie derjenige, der sich umgekehrt den Gang der Dinge als eine Reihe unvermittelter Kataklismen vorstellt. Die Vorstellung von der Entwicklung als einem unmerklichen, ausschließlich friedlichen Prozeß des Ineinandergleitens verschiedener Phasen und Entwicklungsstufen ist gerade charakteristisch für die spießbürgerliche, seichte Auffassungsweise im Gegensatz zu der dialektischen Auffassung des wissenschaftlichen Sozialismus, der sich die Bewegung der Gesellschaft in Gegensätzen denkt und deshalb die Katastrophe in bestimmten Zeitpunkten für unausbleiblich hält. Gerade wir also, die wir im Einklang mit der hergebrachten Auffassung der Partei einen sozialen Zusammenbruch als die Form des Überganges des Kapitalismus in die sozialistische Gesellschaft für unvermeidlich halten und deshalb das Augenmerk der Arbeiterklasse auf dies ihr bevorstehende Endziel gerichtet wissen wollen, gerade wir und nur wir stehen auf dem Boden der Entwicklung, nicht wie sie kleinbürgerliche Angstmeier, sondern wie sie der wissenschaftliche Sozialismus versteht.

Zum Schluß gibt Genosse „gr.“, der, wie gezeigt, von dem gegenseitigen Verhältnis und dem Inhalt der streitenden Richtungen die abenteuerlich-

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