Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 253

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dieselbe zu wenden. Daß es sich aber tatsächlich bei Heine um eine verschiedene Auffassungsweise und nicht bloß um äußere Mißverständnisse handelte, beweist unwiderleglich ein auffälliger Satz in einer seiner Reden in Stuttgart. Das Volk verfügt nach Heine nur über zwei Waffen, mit denen es kämpfen kann: die Pistole, welche knallt, und die Pistole des Bewilligungsrechts im Parlament. Sind wir nicht Blanquisten und bauen wir nicht auf Heugabelrevolutionen, so müssen wir nach Heine das ganze Gewicht auf das letztere Kampfmittel verlegen – auf das Bewilligungsrecht unserer parlamentarischen Vertreter. Es ist von Wurm, von Schoenlank, von Singer glänzend bewiesen worden, daß diese Auffassung irrtümlich, falsch, verkehrt ist. Aber sie ist – was Heine nicht gesagt wurde – viel schlimmer als falsch, sie ist ganz und gar unsozialdemokratisch. Sie ist nicht ein irrtümlicher Gedanke eines Sozialdemokraten, sie ist der richtige Gedanke eines bürgerlichen Demokraten, der sich irrtümlich für einen Sozialdemokraten hält.

In der Tat, Heine kennt nur zwei von dem bürgerlichen Liberalismus uns überwiesene politische Kampfmittel: die Barrikaden und den Parlamentarismus. Er kennt und bemerkt aber nicht das einzige dritte Kampfmittel, das spezifisch von der Sozialdemokratie geschaffen wurde, die neue Potenz, der wir unsere bisherigen Erfolge verdanken und auf die wir in weiteren Kämpfen vor allem rechnen müssen – die Macht des Klassenbewußtseins des Proletariats. Für Heine sind diese Worte einfach eine Phrase; „Klassenbewußtsein des Proletariats“ als direktes Kampfmittel, das ist für ihn etwas Lebloses, Ungreifbares, Imaginäres. Und doch war es nichts anderes als diese unsichtbare Potenz, die im preußischen Landtage, wo wir keinen einzigen Vertreter haben, die reaktionäre Lex Recke[1] zu Fall gebracht hat. Und doch war es nichts anderes als die Wucht des Volkswillens, der ohne einen einzigen Pistolenknall direkt von der Straße in die Ohren der Wiener Regierung donnerte, welche das Ministerium Badeni gestürzt hat.[2] Und doch war es weder der Pistolenknall noch die Verweigerung der Budgetbewilligung, sondern der bloße, durch das Votum ausgedrückte Volkswille, der im Jahre 1890 den eisernen Kanzler ins

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[1] Gesetzentwurf der preußischen Regierung zur Einschränkung des Vereins- und Versammlungsrechtes, der von dem Innenminister Eberhard Freiherr von der Recke im preußischen Abgeordnetenhaus eingebracht worden war. Er wurde am 24. Juli 1897 abgelehnt.

[2] Graf Kasimir Badeni, seit 1895 österreichischer Ministerpräsident, war im November 1897 gezwungen worden, seinen Rücktritt einzureichen. Seine sogenannte Sprachenverordnung vom April 1897, derzufolge in Böhmen und Mähren neben Deutsch auch Tschechisch als Amtssprache eingeführt werden sollte, war unter der deutschsprachigen Bevölkerung auf heftigen Widerstand gestoßen, der besonders in Wien, Graz und in Böhmen zu Unruhen und zu Zusammenstößen zwischen Deutschen und Tschechen führte.