Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 252

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Form von der Tribüne bei jeder Gelegenheit dargelegt; es muß immer mehr in die Stellungnahme zu der Gesetzgebung über die kleinsten praktischen Fragen des täglichen Lebens hinübergeleitet werden. Den Mittelweg finden zwischen sektiererischer Negation und bürgerlichem Parlamentarismus, das ist die eigentliche Schwierigkeit, die sich einer starken sozialdemokratischen Minderheit bietet.

Indem aber das Wachstum der sozialdemokratischen Fraktion sie vor immer schwierigere Aufgaben stellt, bringt es auf der anderen Seite zugleich in der Zusammensetzung der Fraktion eine neue Schwierigkeit mit sich, um den wachsenden Aufgaben gerecht zu werden. Mit jeder Reichstagswahl treten in die Fraktion immer frischere und jüngere Elemente ein, die der großen Erfahrung und der Schulung im langjährigen Kampfe entbehren. Und was dabei unseres Erachtens namentlich in Betracht kommt, ist nicht die einfache Stellungnahme zu den wichtigsten Fragen der Gesetzgebung, die durch direkte Beschlüsse der Parteitage festgesetzt wie durch die Traditionen der Fraktion gegeben werden kann, sondern die ganze Auffassungsweise in bezug auf die allgemeine Rolle des Parlamentarismus in der sozialdemokratischen Bewegung, in bezug auf den ganz besonderen, eigentümlichen Charakter, den eine sozialdemokratische Vertretung im Parlament im Unterschied zu jeder bürgerlichen Vertretung haben muß. Diese spezifische Auffassungsweise vom proletarischen Parlamentarismus läßt sich nicht durch Parteitagsresolutionen einimpfen, sie ist es aber, auf die wir vor allem Gewicht legen müssen und die wir eben, wie die Debatten in Stuttgart gezeigt haben, wenigstens bei einigen unserer Vertreter vermissen.

Als Beispiel müssen wir, trotzdem es uns eigentlich widerstrebt, wiederum den Genossen Heine anführen. Wie Genosse Wurm in seinem Berichte dargelegt hat, wurde Heine wegen der bekannten Äußerung über die Kompensationspolitik seinerzeit von der Fraktion zur Verantwortung gezogen, aber sofort freigesprochen, nachdem er erklärt hatte, nicht an den Klassenstaat gedacht zu haben. Wir sehen davon ab, daß es ein Widersinn ist, von der Bewilligung von Kanonen an einen sozialistischen „Staat“ zu reden, daß somit die Äußerung Heines tatsächlich nur auf den Klassenstaat Bezug haben konnte. Wichtiger ist für uns die Tatsache, daß die Fraktion sich beeilte, den Fall Heine auf ein äußeres formales Mißverständnis, auf einen ungenauen Zeitungsbericht zurückzuführen und nicht, wie sie hätte im Interesse der Partei tun sollen, in der Äußerung des Genossen Heine eine von der parteiüblichen grundverschiedene Auffassungsweise des ganzen politischen Kampfes wahrzunehmen und sich gegen

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