Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 251

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wichtigste und zugleich der lichteste Punkt der Verhandlungen in Stuttgart.

Es ist mehr als einmal geäußert worden, daß, indem wir zu einer großen Partei werden, auch die Schwierigkeiten, die mit unserer Tätigkeit verbunden sind, mit jedem Tage größer werden. In keiner Beziehung ist diese Behauptung vielleicht so zutreffend wie in bezug auf die parlamentarische Tätigkeit unserer Vertreter im Reichstage. Die Rolle der Sozialdemokraten im bürgerlichen gesetzgebenden Körper ist von vornherein ein Verhältnis, das mit inneren Widersprüchen behaftet ist. An der positiven Gesetzgebung womöglich mit praktischem Erfolge teilnehmen und zugleich den Standpunkt der grundsätzlichen Opposition zum kapitalistischen Staate auf jedem Schritt zur Geltung bringen – das ist im allgemeinen Umriß die schwierige Aufgabe unserer parlamentarischen Vertreter. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist um so leichter, je geringer die Zahl unserer Vertreter. Eine kleine Fraktion, die bei den Abstimmungen über Gesetzesvorlagen nicht in Betracht kommt, ist von selbst auf ein vorzüglich negatives Verhalten angewiesen. Das Reden durch das Fenster des Parlaments zum Volke ist darum die eigentliche Aufgabe der sozialdemokratischen Fraktion. Die Fraktion wächst aber mit jeder Reichstagswahl, und sie ist bereits zu einem Grade gewachsen, wo sie eine unter Umständen schwerwiegende Rolle im Reichstage spielen kann. Im Zusammenhang damit muß sich auch ihr Verhalten zu der gesetzgeberischen Arbeit naturnotwendig ändern. Die Quantität muß auch hier in Qualität umschlagen. Singer hat im Laufe der Debatte in Stuttgart in einem ganz anderen Zusammenhange gesagt: „Ich bin überhaupt der Meinung, daß wir eine viel zu starke Partei geworden sind, als daß wir Anträge stellen, von deren Nutzlosigkeit wir von vornherein überzeugt sind.“[1] Dieser charakteristische Ausspruch beweist, daß unsere Fraktion sich ihrer veränderten Lage voll bewußt ist, er zeigt auch, nach welcher Richtung die Änderung stattfinden muß: Das bloß Demonstrative, Agitatorische in der Fraktionstätigkeit tritt noch mehr, als es bis jetzt der Fall war, in den Hintergrund, die positive Arbeit tritt auf den ersten Plan. Aber das grundsätzliche Verhalten unserer Fraktion – das ist die eigentliche Schwierigkeit – darf dabei nicht im mindesten verändert werden. Der Standpunkt muß in allen Fällen ganz derselbe bleiben, wie es durch unser Programm und unsere Tradition gegeben ist, was geändert werden darf, ist bloß die Methode, die Art und Weise, den Standpunkt zum Ausdruck zu bringen; das Programm wurde einst in seiner nackten und abstrakten

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[1] Ebenda, S. 150.