Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 248

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Industrie ein Hemmschuh geworden ist; zweitens ist der Punkt in der Weise abgefaßt, daß er nicht den allgemeinen Charakter der heutigen industriellen Entwicklung vom Standpunkte unserer Interessen, sondern, umgekehrt, die Rücksichtnahme unsererseits in der Festsetzung unserer Zollpolitik auf die Interessen der Industrie zum Ausdruck bringt. Der Sinn des Punktes 3 der Kautskyschen Resolution ist nicht: Wir müssen gegen den Schutzzoll sein, weil er von der kapitalistischen Entwicklung überholt worden ist, sondern: Wir dürfen gegen den Schutzzoll sein, weil er für die Industrie nunmehr überflüssig ist. Also wiederum ein Zweckmäßigkeitsgrund und kein prinzipieller Grund.

Immerhin war der Punkt 3 auch in seiner ursprünglichen schwächlichen Fassung der einzige in der Resolution, der wenigstens annähernd dasjenige formulierte, was die prinzipielle Haltung der Sozialdemokratie in der Zollfrage begründen konnte, und deshalb erregte er auch sofort den größten Anstoß bei den Anhängern des Opportunismus in der Zollpolitik. Ebenso Schippel wie Vollmar und einige andere Genossen erklärten ausdrücklich, daß sie die Resolution Kautsky unterschreiben, sobald der Punkt 3 wegfällt oder abgeändert wird. War damit der beste Beweis geliefert, daß es für die Anhänger einer grundsätzlichen Zollpolitik galt, den genannten Passus der Resolution aufrechtzuerhalten oder vielmehr noch klarer und konsequenter zu fassen, so haben Kautsky, Bebel und Genossen umgekehrt die Gelegenheit ergriffen, so schnell wie möglich eine Harmonie zwischen beiden entgegengesetzten Standpunkten herzustellen, und akzeptierten sofort das kleine Amendement, wonach Punkt 3 nunmehr lautet, daß die deutsche Industrie jetzt „im allgemeinen“ des Zollschutzes entraten kann.

An und für sich ist das Wörtlein „im allgemeinen“ ein sehr harmloses Amendement; es drückt ferner auch etwas ganz Selbstverständliches aus, da es ein Unding wäre, zu behaupten, daß alle Zweige der deutschen Industrie auf der gleichen Höhe der Konkurrenzfähigkeit stehen. Aber unter den gegebenen Umständen, in dem Zusammenhang, der durch die Debatten geschaffen war, bedeutete das harmlose Wörtlein nichts anderes als den Verzicht auf den Rest der grundsätzlichen Fassung, die die Resolution Kautsky hatte, und einen Kompromiß mit dem Schippelschen Standpunkt. Denn die Einschaltung des Amendements „im allgemeinen“ sollte nicht dazu dienen, die selbstverständliche und sonst gleichgültige Tatsache der verschiedenen Entwicklungsstufen der deutschen Industrien bloß zu konstatieren, sondern dazu, unser Verhalten in der Zollfrage in der Praxis von dieser Tatsache abhängig zu machen.

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