Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 249

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In der Tat. Worauf es Schippel ankam und wofür er namentlich in seiner ganzen fesselnden Rede eintrat, war nichts anderes, als daß wir uns nicht durch eine allgemeine Regel binden, sondern in unserer Zollpolitik die Interessen und die Lage jedes besonderen Industriezweiges berücksichtigen sollen. Dies geschah auch durch die Einschaltung der Worte „im allgemeinen“ in den Passus 3 der Kautskyschen Resolution. Was bedeutet aber die Unterscheidung der einzelnen Industriezweige bei der Zollfrage anderes, als daß wir uns in dieser Frage auf den Standpunkt des Unternehmerprofits stellen? Den gleichen Schutzzoll für alle Branchen der Industrie – diese Forderung wird auch von unseren bürgerlichen Schutzzöllnern nicht gestellt. Auch sie unterscheiden die verschiedene Konkurrenzfähigkeit der einzelnen Industriezweige. Was dagegen einzig und allein unsere Haltung, die grundsätzliche Haltung kennzeichnen kann und muß, ist die Hervorhebung der zersplitterten industriellen Interessen und Entwicklungsstufen gegenüber der allgemeinen Tendenz der industriellen Entwicklung und der Interessen der vorgeschrittensten Industriezweige. Wie unser eigentlicher Charakter einer Arbeiterpartei mit prinzipieller Weltanschauung darin liegt, daß wir den zersplitterten und augenblicklichen Interessen der verschiedenen Arbeitergruppen die allgemeinen und dauernden Interessen der Klasse im ganzen entgegenstellen, so besteht unser grundsätzlicher Charakter in allen Lebensfragen der bürgerlichen Gesellschaft darin, daß wir ihren zersplitterten Gruppeninteressen gegenüber die Interessen der kapitalistischen Gesamtentwicklung vertreten. So verfahren wir z. B. auch in der Frage des achtstündigen Arbeitstages, zu dessen Einführung zweifellos sehr viele Industriezweige heute noch nicht entfernt reif genug sind. In der Zollfrage lag gerade der Kernpunkt der Differenz zwischen der prinzipiellen und der opportunistischen Auffassung darin, ob man sich auf den Boden der Entwicklung im ganzen, von deren Standpunkte der Schutzzoll grundsätzlich reaktionär erscheint, oder auf den Boden der industriellen Einzelinteressen, von deren Standpunkt er je nach dem Fall fortschrittlich oder reaktionär erscheint, stellen soll. Die Resolution Kautsky vertrat zunächst, wenn auch in unklarer Form, den prinzipiellen Standpunkt. Durch die Einschaltung des Amendements „im allgemeinen“ angesichts der Bedeutung und der Motivierung, die dieses Amendement in der Debatte erhielt, angesichts der Tatsache, daß ebendieses Amendement es war, das die Schippelsche Richtung auf die Resolution Kautsky geeinigt hat, verlor diese Resolution allen prinzipiellen Charakter. Dies leuchtet auch aus einer anderen Seite der Sache ein. Es wurde als Motiv des Amendements allgemein angegeben, daß wir unsere

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