Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 244

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beiden extremen Richtungen zukommenden Bedeutung –, daß er die Ausführungen Vollmars „und die sich daraus ergebenden Konsequenzen, wenn der Parteitag denselben etwa sollte zustimmen, für viel gefährlicher für die Partei halte als die Ansichten der Opposition und ihrer Wortführer“[1] [Hervorhebung – R. L.] In der Tat, wenn die anarchistischen Theorien durch die praktischen Erfolge der Sozialdemokratie, also durch Tatsachen selbst, tagtäglich auf den Kopf geschlagen werden, so daß vollständige Kopflosigkeit dazu gehört, an den anarchistischen Hirngespinsten heute noch festzuhalten, werden die opportunistischen Ansichten umgekehrt durch dieselben Tatsachen scheinbar jeden Tag bestätigt, so daß ihre Widerlegung nur durch die klare Erkenntnis der Partei gegeben werden kann. Die Anforderungen, die der Kampf mit der opportunistischen Richtung an die theoretische und taktische Ausbildung der Partei stellt, sind unvergleichlich höher, als es bei dem Kampfe mit dem Anarchismus der Fall war. Und so sehen wir denn auch seit 1891 den opportunistischen Flügel der Partei immer wieder den Kopf erheben. 1892 auf dem Parteitag in Berlin taucht er auf und wird geschlagen in der Form des Staatssozialismus.[2] 1894 in Frankfurt gibt die bayerische Abstimmung für das Budget[3] den Anlaß zu einer heftigen Auseinandersetzung, in der die opportunistische Richtung wieder gründlich abgefertigt wird. 1895 in Breslau kommt das den praktischen Erfolgen Nachjagen in der Form des Agrarsozialismus[4] zum Ausdruck, um wiederum an der prinzipiellen Festigkeit der Praxis zu scheitern. Endlich nach verschiedenen Spezialfragen der Partei hatten wir in Stuttgart eine allgemeine und grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Opportunismus, dank der letzten konsequenten Ausbildung, die er theoretisch bei Bernstein und praktisch bei Heine gefunden hat.

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[1] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. Oktober 1891, Berlin 1891, S. 198.

[2] Auf dem Parteitag der Sozialdemokratie vom 14. bis 21. November 1892 in Berlin war eine Resolution einstimmig angenommen worden, in der die Theorie vom sogenannten Staatssozialismus als Mittel zur Trennung der Arbeiter von der Sozialdemokratie entlarvt wurde. Nach dieser Theorie sollten geringe Konzessionen an die Arbeiterklasse und eine umfassende Verstaatlichung der kapitalistischen Wirtschaft als Sozialreform ausgegeben werden.

[3] Am 1. Juni 1894 hatte die sozialdemokratische Fraktion des bayrischen Landtags unter Führung Georg von Vollmars dem Budget zugestimmt und damit erstmals das von August Bebel aufgestellte Prinzip der revolutionären Sozialdemokratie „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“ durchbrochen.

[4] In der Diskussion über das Agrarprogramm forderten Eduard David und Max Quarck die Unterstützung der Kleinbetriebe durch den kapitalistischen Staat in Form von Reformen, die sie als sozialistisch ausgaben. Sie leugneten die geschichtliche Tendenz zum Großbetrieb und damit die Möglichkeit und Notwendigkeit der sozialistischen Vergesellschaftung auf dem Lande.