Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 243

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/243

schen Wahlen auftauchen: 1871 auf dem Parteitag in Dresden, 1873 in Eisenach, 1874 in Koburg, 1877 in Gotha, dann im Schlosse Wyden[1], in Kopenhagen[2], in St. Gallen[3]; nach dem Fall des Sozialistengesetzes gestaltet sich der Streit zu einer Auseinandersetzung mit den Unabhängigen[4] im Jahre 1890 in Halle und 1891 in Erfurt, wo sie ihren natürlichen Abschluß fand. Nach der Wiedergewinnung des gesetzlichen Bodens, nach dem glänzenden Sieg der Sozialdemokratie bei den Wahlen 1890 mußte innerhalb der Sozialdemokratie jeder Zweifel über die Tragweite des parlamentarischen Kampfes aufhören, und diejenigen Elemente, die an dem Standpunkte der rein negativen Agitation festhielten, mußten ihre natürliche Entwicklung zum Anarchismus, d. h. zum politischen Bankerott, rasch durchmachen. Damit war der innere Kampf der Partei nach der einen Seite beendet.

Nun begann alsbald der Kampf nach der entgegengesetzten Richtung; der plötzliche und mächtige Aufschwung der Sozialdemokratie in der Sonne der Gesetzlichkeit hatte neue Gefahren mit sich gebracht. Hatte sich früher ein Flügel der Partei immer zur Unterschätzung des alltäglichen positiven Kampfes, zur Negation geneigt, so mußte die üppige Entwicklung der Bewegung in die Breite seit 1890 naturnotwendig zu dem anderen Extrem, zur Überschätzung der positiven Reformarbeit, zu opportunistischen Neigungen führen. Der Parteitag in Erfurt bildet den charakteristischen Übergangsmoment, wo die Partei nach zwei Seiten hin zu kämpfen hatte – einerseits gegen die Überreste der Unabhängigenbewegung, gegen die Werner & Co., andererseits bereits gegen die ersten Anzeichen des Opportunismus in der Person Vollmars, dem schon damals Singer entgegenhalten mußte, daß er das Endziel des Sozialismus „als eine Art Familienreliquie in den Silberschrank gestellt hatte, der nur bei besonders feierlichen Gelegenheiten geöffnet wird“. Derselbe Singer konstatierte auch in seiner nämlichen Rede – in der richtigen Erkenntnis der jeder der

Nächste Seite »



[1] Der Kongreß der deutschen Sozialdemokratie auf Schloß Wyden in der Schweiz fand vom 20. bis 23. August 1880 statt.

[2] Der Kongreß der deutschen Sozialdemokratie in Kopenhagen fand vom 29. März bis 2. April 1883 statt.

[3] Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in St. Gallen fand vom 2. bis 6. Oktober 1887 statt.

[4] Eine linkssektiererische Gruppe in der deutschen Sozialdemokratie, bekannt geworden unter der Bezeichnung die „Jungen“, hatte sich gegen die allseitige Ausnutzung der legalen Möglichkeiten für die Tätigkeit der Partei gewandt und besonders die von der Partei ausgearbeitete revolutionäre Parlamentstaktik verneint. Die „Jungen“ hatten versucht, der Partei eine sektiererische Verschwörerpolitik aufzuzwingen. Auf dem Parteitag 1890 in Halle waren die „Jungen“ einmütig zurückgewiesen und auf dem Parteitag 1891 in Erfurt ihre Wortführer aus der Partei ausgeschlossen worden. Sie gründeten eine eigene Organisation, den Verein Unabhängiger Sozialisten, der aber von der Arbeiterklasse völlig isoliert blieb.