Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 196

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(lies: der russischen Regierung) entspricht.“[1] Die bezeichnete spezielle Rolle, welche die polnische Bourgeoisie der russischen Regierung gegenüber als Bollwerk der Annexion spielt, gibt auch wichtige Aufschlüsse über die behandelte Hauptfrage, d. h. die Zukunft des polnischen Kapitalismus. Es gehört in der Tat eine enorme Dosis von Naivität dazu, um der russischen Regierung, welche sich geradezu zur Aufgabe gemacht hat, in Polen den Kapitalismus zu kultivieren, und hierfür mehr als ein halbes Jahrhundert lang alle Hebel in Bewegung setzte, die Absicht zuzumuten, nun auf einmal denselben Kapitalismus wieder vernichten, die polnische Bourgeoisie zur Opposition treiben und so das Werk eigener Hände mutwillig zerstören zu wollen. Und zwar einzig und allein dem Moskauer Unternehmertum zuliebe, für dessen Wehklagen und Zetern sie ein halbes Jahrhundert lang taube Ohren hatte! Die russische Regierung weiß leider ihre Herrschaftsinteressen besser zu wahren. Welche diese Interessen in bezug auf Polen sind, wissen wir aus dem Munde ihres Vertreters: das ist „die friedliche Assimilierung“ Polens mit Rußland, d. h. die Befestigung seiner Herrschaft in Polen um jeden Preis. Diese Erklärung wurde 1893 abgegeben, also lange nachdem der vermeintliche neue Kurs in der russischen Politik begonnen haben sollte.

Die beste Bestätigung unserer Auffassung liefert die neueste Geschichte der Beziehungen Rußlands zu Finnland. Wir finden hier im kleinen Maßstab eine genaue Wiederholung der einstigen russischen Politik in Polen. Finnland bleibt bis jetzt durch eine Zollgrenze vom Zarenreich getrennt und treibt dem Auslande gegenüber eine selbständige, und zwar viel liberalere Zollpolitik als Rußland. Der finnländischen Industrie kommen beinahe alle die Vorteile zugute, welche bereits der polnischen zur Blüte verholfen haben. Auch haben die finnländischen Erzeugnisse, besonders die der Metallindustrie, dank u. a. dem niedrigeren Zolltarif an der russisch-finnländischen Grenze als an den übrigen russischen Grenzen, in Rußland Eingang gefunden, wo sie der einheimischen Industrie eine arge Konkurrenz bereiten. Die russischen Unternehmer, denen dies ein Dorn im Auge ist, versäumten selbstverständlich nicht, eine „alleruntertänigste“ Aktion zum Schutze der „vaterländischen“ Industrie gegen die „fremden“ Rivalen – ganz wie seinerzeit gegen Polen – in Szene zu setzen. Die Regierung hat auch unter ihrem Druck die Zölle gegen Finnland als ein ökonomisch fremdes, weil zollpolitisch selbständiges Gebiet zweimal – 1885 und 1897 – erhöht.

Würde nun die russische Regierung die Interessen dieser oder jener

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[1] Die Fabrikindustrie Rußlands. Einleitung. S. 29. [Fußnote im Original]