Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 189

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Leib rücken, ohne gleichzeitig Lebensinteressen dieser oder jener Gruppe der russischen Bourgeoisie empfindlich zu verletzen.

Die Annahme, Rußland gehe oder könne darauf ausgehen, den polnischen Kapitalismus zu vernichten, setzt voraus, daß die russische ökonomische Politik sich ausschließlich zum Werkzeug der Interessen der Handvoll Moskauer Kattunfabrikanten machen könnte, was auf einer Verkennung ebenso der Natur der Bourgeoisie wie derjenigen einer kapitalistischen Regierung beruht. Bei der gegebenen Zersplitterung und Gegensätzlichkeit der Interessen innerhalb der Kapitalistenklasse kann die Regierung die Interessen der letzteren nur im ganzen vertreten; sie kann sich nicht dauernd auf den Standpunkt irgendeiner Gruppe derselben stellen, ohne durch die Opposition der anderen Gruppen von diesem Standpunkt wieder verdrängt zu werden. Auch die russische Regierung – obwohl absolut – macht keine Ausnahme von dieser Regel. Denn auch in Rußland ist die Bourgeoisie nur in dem Maße ein politisches Werkzeug der Regierung, als diese das Werkzeug der ökonomischen Interessen der Bourgeoisie ist. Wollte die absolute russische Regierung sich zum ausschließlichen Anwalt der Moskauer Baumwollinteressen machen und zu diesem Behufe die polnischen und damit die russischen kapitalistischen Interessen im ganzen mit Füßen treten, so würde sie nicht umhin können, eine heftige bürgerliche Opposition in Rußland selbst gegen sich hervorzurufen. Das Schlußresultat einer solchen Politik wäre höchstens die Bestrebung der russischen und der polnischen Bourgeoisie nach einer Regierungsform, die ihre Interessen im ganzen besser zu wahren wüßte als die heutige. Damit ist die Frage über die Zukunft des polnischen Kapitalismus von dieser Seite entschieden: Wollte ihm auch die russische Regierung Abbruch tun, ihre Bestrebungen würden an der geharnischten Opposition der Bourgeoisie Rußlands und Polens in die Brüche gehen.

Von diesem Standpunkt aus können wir auch die ganze Frage von den angeblichen Verfolgungen der polnischen Industrie auf ihren wahren Wert reduzieren. Alle Maßregeln, die man gewöhnlich als Belege für eine antipolnische ökonomische Politik Rußlands anführt, haben einen gemeinsamen Charakterzug: Sie sind nämlich alle darauf gerichtet, die polnische Industrie vom Gebrauch ausländischer Rohstoffe ab- und zum Bezug russischer anzuhalten. Dies war der Fall bei dem Differentialzoll auf Baumwolle, auf Kohle, auf Roheisen. Nicht zugunsten der mit Polen konkurrierenden russischen Industrien und nicht behufs Vernichtung der polnischen, sondern zugunsten der an die letztere gebundenen russischen Rohproduktion und behufs Erzielung einer bestimmten Gestaltung der pol-

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