Nichtsdestoweniger vertritt in Wirklichkeit weder die eine noch die andere Partei die Interessen der gesamten polnischen und russischen Bourgeoisie – im Gegenteil, beide haben zahlreiche Gegner unter den eigenen Landsleuten –, noch ist auch der um die inneren Märkte entbrannte Konkurrenzkampf maßgebend und charakteristisch für die Verhältnisse der Streitenden. Ihrer Rivalität auf dem inneren Absatzmarkte steht die Interessensolidarität in einer ganzen Reihe anderer kapitalistischer Lebensfragen gegenüber.
In der ganzen kapitalistischen Entwicklung Polens und Rußlands, welche auf eine immer stärkere Verknüpfung der Produktion und des Austausches beider Länder ausgeht, spielt der Łódź-Moskauer Baumwollstreit – wenn man sich durch das Gebaren der streitenden Unternehmer nicht irreführen und die weitere Perspektive des ganzen kapitalistischen Schachbretts nicht aus dem Auge läßt – eine ganz verschwindend kleine Rolle.[1][1]
Jetzt erst, aus dieser materiellen Interessengrundlage heraus, läßt sich die ökonomische Politik der russischen Regierung beurteilen und erklären. Die Hauptsorge Rußlands ist seit den sechziger Jahren, wie zur Genüge bekannt, die Aufzucht des Kapitalismus. Zu diesem Zweck wird die Prohibitivzollpolitik befolgt, die Treibhausatmosphäre der Monopolpreise und -profite im Reiche geschaffen, werden die kostspieligsten Verkehrsmittel errichtet, Unterstützungen und Prämien an „notleidende“ Kapitalisten gewährt etc. etc. Von diesem Standpunkte aus erscheint die Entwicklung des Kapitalismus in Polen ebenso wie in den andern Teilen des Reiches als partielle Verwirklichung des eigenen Programms der Regierung, der Rückgang desselben dagegen als eine Durchkreuzung dieses Programms. Wichtiger aber noch als die eigenen ökonomischen Absichten der russischen Regierung sind hier die objektiven Tendenzen der russischen Ökonomik. Die von der Regierung großgezogene Bourgeoisie spielt bereits in Rußland eine bedeutende Rolle. Mit ihren Interessen muß jetzt die Regierung in ernster Weise rechnen, will sie auch ihre eigenen durchsetzen. Die Interessen der russischen Bourgeoisie sind aber – wie gezeigt – in mannigfaltigster Weise mit denen der polnischen verwoben. Man könnte in keinem Punkt der polnischen Industrie ernst und auf die Dauer auf den
[1] Wie sehr sie übrigens gerade infolge des gemeinsamen Absatzmarktes und der Arbeitsteilung einander ergänzen und miteinander verbunden sind, beweist die Tatsache, daß bereits 1897 das Projekt eines Kartells zwischen Łódź und Moskau auftauchte, wonach die von jeder der Parteien anzufertigenden Warensorten festgesetzt und so der Absatz gemeinsam geregelt werden sollte. (Handels- und Industriezeitung vom 31. Juli 1897.) Wenn der Plan auch einstweilen gescheitert ist, so bleibt dennoch die Idee selbst für die Verhältnisse sehr bezeichnend. [Fußnote im Original]