Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 178

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schen Baumwollfabrikanten, und es hieß, daß der polnischen Industrie damit ein Todesstoß versetzt werde. Der Differentialzoll spielte auch die Hauptrolle als Beleg für die begonnene „Verfolgungsära“, und bei jeder Gelegenheit berief man sich auf ihn. Nun ist aber diese Zolldifferenz im Jahre 1894 auf Grund des russisch-deutschen Handelsvertrages wieder aufgehoben worden und hat einem an allen russischen Grenzen einheitlichen Zoll für Baumwolle Platz gemacht. Dasselbe war der Fall mit dem Differentialzoll auf Kohle und Koks an der westlichen Grenze, welcher vielfach als eine direkt gegen die polnische Eisenindustrie gerichtete Maßregel hingestellt wurde (s. Schulze-Gävernitz, l. c., S. 347, und nach ihm das englische Blaubuch, S. 9). Der erwähnte Zoll wurde aber gleichfalls 1894 wieder auf die Hälfte herabgesetzt. Desgleichen werden Eisenbahntarife jedes Jahr, ja manchmal noch häufiger, partiell verändert. Somit bietet die Zoll- und Tarifpraxis allein noch gar keine festen Anhaltspunkte, um Einsicht in die ökonomische Politik Rußlands zu gewinnen.

Will man zu einem gründlichen Verständnis dieser Politik gelangen, so muß man vorläufig von den einzelnen Maßnahmen absehen, tiefer in die ökonomischen Verhältnisse Polens und Rußlands einerseits und in ihre politischen Interessen andererseits hineinblicken und aus denselben heraus die ökonomische Politik des letzteren abzuleiten suchen. Erst dann, nach der so gewonnenen Richtschnur wird es möglich sein, auch die einzelnen Maßnahmen dieser Politik auf ihre wirkliche Bedeutung zurückzuführen.

Wie sind nun vor allem die ökonomischen Beziehungen zwischen Polen und Rußland beschaffen? Wollte man unter dem unmittelbaren Eindruck des Łódź-Moskauer Unternehmerstreites urteilen, so wäre man geneigt anzunehmen, daß die polnische und die russische Bourgeoisie zwei völlig getrennte Lager bilden, deren Interessen auf allen Punkten einander schnurstracks zuwiderlaufen und die sich wechselseitig mit allen Mitteln bekämpfen. Eine solche Meinung wäre indessen ganz und gar unzutreffend.

Was schon von vornherein eine so scharfe Trennung der Interessen ausschließt, ist die weitgehende Arbeitsteilung, welche zwischen den Industrien der beiden Länder stattfindet. Wie wir gesehen haben, ist Polen für Rußland eine Bezugsquelle für Wollspinngarn, Maschinen, Kohle etc. etc., Rußland versieht dagegen Polen mit roher Wolle, mit Roheisen, mit Koks und mit Baumwolle.

Ein solches Verhältnis setzt schon voraus, daß die Interessen mancher polnischer Fabrikanten mit den Interessen russischer Rohproduzenten und die Interessen mancher russischer Fabrikanten mit denjenigen der polni-

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