Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 177

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Nicht nur beruht also angesichts der obigen Zahlen die Vermutung von einem begonnenen Rückgang der polnischen Industrie auf völliger Unkenntnis der Tatsachen, sondern es zeigt sich umgekehrt, daß die Industrie in der letzten sieben- bzw. zehnjährigen Periode um ein größeres angewachsen ist als in der vorhergehenden vierzehnjährigen Periode. Am deutlichsten wird das Gesagte, wenn wir den Zuwachs in beiden Perioden pro Jahr berechnen. Der durchschnittliche jährliche Zuwachs war nämlich in der letzten Periode größer als in der vorhergehenden, und zwar: in der Gesamtindustrie um 107%, in der Textilindustrie um 90%[1], in der Produktion von Eisen und Stahl um 20%, von Kohle um 63%, endlich von Roheisen um 1020 %.

Andererseits haben wir am Ende des ersten Teils unserer Arbeit gleichfalls die neuesten Eroberungen der polnischen Industrie auf russischen und asiatischen Absatzgebieten bis in die 90er Jahre angeführt. Kein Zeichen am Leibe des polnischen Kapitalismus scheint also die Vermutung zu rechtfertigen, daß er an einem innerlichen Leiden dahinsieche, im Gegenteil wächst und blüht der vielbeweinte „so herrlich wie am ersten Tag“. Allein da die Frage einmal erhoben worden ist und jahrelang die öffentliche Meinung in Polen erregte und da sie andererseits auch an sich wichtig und interessant genug ist, so erscheint es angebracht, sich damit näher zu befassen und einmal durch eine gründliche Prüfung der Frage Aufschluß darüber zu bekommen, welches der Lage nach die ökonomische Politik der russischen Regierung im allgemeinen und speziell Polen gegenüber ist und sein kann.

Es ist für alle erwähnten und zitierten Äußerungen über den antipolnischen Kurs bezeichnend, daß sie sich ausschließlich auf einzelne Maßnahmen und Verfügungen bald aus dem Gebiete der Zollpolitik, bald aus dem des Eisenbahntarifwesens stützen. Es liegt aber auf der Hand, daß man auf diesem Wege zu keinem wirklichen Verständnis der Regierungspolitik gelangen kann. Denn vor allem ist das, worauf man sich im gegebenen Fall beruft, eine äußerst veränderliche Größe: Ein Zoll, der heute eingesetzt, ein Eisenbahntarif, der heute eingeführt wurde, wird morgen aufgehoben. So geschah es namentlich z. B. mit dem Differentialzoll auf Rohbaumwolle, welcher an der polnischen Grenze um 15 Kopeken in Gold mehr betrug als an den übrigen Grenzen Rußlands. Als er im Jahre 1887 eingeführt wurde, erhob sich ein Jammergeschrei unter den polni-

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[1] Resp. um 26%, wenn wir für diese Branche, da das Jahr 1885 speziell für die Textilindustrie infolge der Krise von 1884 ungünstig war, die Periode 1871–1886 (15 Jahre) mit derjenigen 1886 bis 1892 (6 Jahre) vergleichen. [Fußnote im Original]