Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 165

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Dies sollte zu dem Lohn des russischen Arbeiters hinzugerechnet werden, wenn man einen genauen Vergleich anstellen will. Somit ist der Unterschied sogar in dem nominellen Lohn zuungunsten Polens nicht so groß, wie das bei oberflächlicher Zusammenstellung erscheinen könnte.

Viel wichtiger aber sind weitere Momente, welche dartun, daß die Fabrikarbeit in Polen bedeutend intensiver ist als in Rußland.

Der polnische Arbeiter ist vor allem durchschnittlich intelligenter und gebildeter. Soweit Prof. Janshul darüber Untersuchungen angestellt hat, hat es sich ergeben, daß in dem zentralen Rayon die Zahl der Arbeiter, welche lesen und schreiben können, 22-36 % der Gesamtzahl, in Polen dagegen 45-65 % beträgt.[1]

Der polnische Arbeiter nährt sich ferner besser als der russische, und das gilt besonders von den Frauen.[2] Die Arbeiterschaft ist drittens in Polen eine stabile, ausschließlich auf Fabrikarbeit angewiesene Bevölkerungsschicht. In Rußland besteht immer noch ein beträchtlicher, wenn auch allmählich abnehmender Teil des Arbeiterkontingents aus Bauern, die zur Sommerszeit aufs Land zurückkehren und die feine Fabrikarbeit mit groben Feldarbeiten vertauschen.[3]

Der polnische Arbeiter ist viertens in seiner Lebensweise viel individualisierter als der russische. Dieser wohnt, wie erwähnt, vielfach in Fabrikkasernen und ist auf Fabrikkost angewiesen. Eine solche Lebensweise führt aber unter Umständen zur gänzlichen Verkümmerung der Individualität. Der russische Arbeiter bleibt dabei stets der Kontrolle seiner Vorgesetzten unterstellt und ist sogar in seinem Privatleben an das Fabrikreglement gebunden. Der Moskauer Fabrikinspektor weiß von Fabriken zu berichten, wo das Singen – sei es in den Werkstätten oder in den Wohnstuben – mit einer Buße von 5 Rubel geahndet wird, ebenso verfallen die Arbeiter einer hohen Strafe, wenn sie einander Besuche abstatten und dgl.[4] Nicht selten wird den Arbeitern eine Wohnung in feuchten Fabrikkellern zugewiesen oder in Räumen, die so niedrig sind, daß man fast nur auf allen vieren ins Innere eindringen kann.[5] In Polen liegen die Verhältnisse anders: Der Arbeiter führt immer einen eigenen Haushalt, und seine Behausung ist überhaupt bedeutend besser.

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[1] J. J. Janshul: Der Fabrikarbeiter in Mittelrußland und im Königreich Polen. In: Europäischer Bote, Februar 1888, S. 794. [Fußnote im Original]

[2] l. c., S. 792. [Fußnote im Original]

[3] In den drei erwähnten industriellen Bezirken des Moskauer G. beträgt die Zahl der erwachsenen männlichen Arbeiter, die im Sommer die Fabrik verlassen, durchschnittlich 14,1 % in der Textilbranche, 19,7 % der gesamten Arbeiterschaft. (Dementjew, l. c., S. 4.) [Fußnote im Original]

[4] Bericht des Fabrikinspektors für den Moskauer Rayon. S. 81. [Fußnote im Original]

[5] Bericht des Fabrikinspektors für den Rayon Wladimir, S. 68. [Fußnote im Original]