Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 151

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schen Absatzgebiete gewinnt die polnische Industrie einen üppigen Nährboden und macht rasch den Umwandlungsprozeß in eine Großindustrie durch. Die Zollpolitik Rußlands monopolisiert die Annehmlichkeiten des enormen Absatzgebietes für russische und polnische Kapitalisten und erzeugt eine fieberhafte Kapitalakkumulation. Die Fabrikindustrie wird in Polen zum herrschenden Faktor des ganzen sozialen Lebens, in welchem seit den letzten 25 Jahren auch ein totaler Umschwung eintritt.

Wie wir oben erwähnt haben, bewahrte Polen bis zu den sechziger Jahren den Charakter eines agrikolen Landes mit der Herrschaft des. Standes der Grundbesitzer auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Die Bauernreform[1] zertrümmerte schon zum großen Teil diese Vorherrschaft des adeligen Grundbesitzes.[2] Die Notwendigkeit, über das nun für den Betrieb unentbehrliche Geldkapital zu disponieren, vergrößerte stark seine Verschuldung. Die in den achtziger Jahren hinzugetretene allgemeine Krise in der europäischen Landwirtschaft und das Sinken der Getreidepreise gaben ihm den Rest.

Die ganze breite Schicht des mittleren adeligen Grundbesitzes ging und geht dadurch mit jedem Tage ihrem Ruin mehr entgegen. 15 Prozent der adeligen Güter sind bereits aus den Händen ihrer Besitzer in deutsche und jüdische Hände übergegangen, andere 15 Prozent wurden in Parzellen zerschlagen und an Bauern verkauft. Der übrige Grundbesitz ist mit einer Hypothekenschuld belastet, die im Durchschnitt 80 Prozent, in zwei Fünfteln der Fälle aber 100 bis 250 Prozent des Wertes beträgt.[3] Gleichzeitig wuchs aber immer mächtiger die Industrie, und bald wurde sie in allen Beziehungen der Landwirtschaft überlegen. Schon 1880 war der Wert der industriellen Produktion demjenigen der Getreideproduktion gleich.[4] Heute übersteigt er ihn um mehr als das Doppelte: der erstere beträgt zum mindesten 23 Rubel, der letztere nur 11 Rubel pro Kopf der Bevölkerung.[5] Aber auch diese quantitativ untergeordnete Landwirtschaft ist gänzlich in Abhängigkeit von der Industrie geraten. Während Polen ehemals „ein Speicher Europas“, ein vorwiegend für den Weltmarkt Getreide produzierendes Land gewesen, befriedigt es heute kaum den eigenen Be-

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[1] Die zaristische Regierung war gezwungen, am 2. März 1864 die Leibeigenschaft in Polen aufzuheben und damit den polnischen Bauern ihre in den Kämpfen von 1863/64 erworbenen Rechte zu garantieren.

[2] Eine kurze Geschichte dieser Reform und der Verhältnisse zwischen den Grundbesitzern und den Bauern in Polen s. in den englischen „Diplom. and Cons. Reports“, Nr. 355. [Fußnote im Original]

[3] J. Bloch: Der Grundbesitz und dessen Verschuldung. – „There is no doubt that a great majority of the landowners in Poland live under the most difficult conditions.“ (Diplom. and Cons. Reports, Nr. 347, S. 11.) Einiges auch in J. Bloch: Die bäuerliche Bank und die Parzellation, S. 1 u. 16. [Fußnote im Original]

[4] J. G. Bloch: Die Industrie des Königreichs Polen, S. 181 [Fußnote im Original]

[5] Die Fabrikindustrie Rußlands, S. 32 u. 33 [Fußnote im Original]