Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 119

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Unter solchen Umständen wurde das Defizit gleich von Anfang an zu einer stehenden Erscheinung im Budget des Königreiches. Die Schaffung neuer Einnahmequellen für den Fiskus und neuer Gebiete ökonomischer Tätigkeit im Lande wurde deshalb für das Königreich vom ersten Augenblick an zu einer Existenzbedingung. Nach dem Vorbild anderer Staaten und von unmittelbaren Bedürfnissen getrieben, unternahm nun die Regierung die Gründung einer städtischen Industrie in Polen.

Das Jahrzehnt 1820–1830 ist die Entstehungsperiode der polnischen Industrie oder richtiger der polnischen Manufaktur.

Bezeichnenderweise ist sie ganz ähnlich der ehemaligen Entstehung des polnischen Handwerks auf dem Wege der Herbeiziehung fremder, meist deutscher Handwerker zustande gekommen. Ebenso wie im 13. Jahrhundert die polnischen Fürsten durch allerlei Privilegien fremde Arbeiter nach Polen zu locken suchten, so auch die Regierung Kongreßpolens[1]. Eine ganze Reihe von diesbezüglichen Zaren-Ukasen wurde in den Jahren 1816 bis 1824 erlassen. Die Regierung stellte unentgeltlich Häuser, Baumaterial zur Verfügung, erließ den Pachtzins, gründete den sogenannten eisernen Fonds zur Errichtung von Industriegebäuden und Wohnhäusern für Industrielle. 1816 wurde den einwandernden Handwerkern die Befreiung von allen Steuern und öffentlichen Lasten für sechs Jahre zugesichert, ihre Söhne vom Militärdienst befreit und die zollfreie Einführung ihrer Mobilien gestattet. 1820 gewährte die Regierung den Einwanderern für zehn Jahre unentgeltlichen Bezug von Baumaterial aus Staatswäldern und errichtete eigene Ziegeleien, um ihnen möglichst billige Ziegel zu liefern.

Ein Gesetz vom Jahre 1822 befreite alle industriellen Unternehmungen für drei bis sechs Jahre von der Einquartierung. 1820 und 1823 wurde verordnet, daß die Städte zu diesen Unternehmungen Plätze für sechs Jahre zinsfrei herzugeben haben. Der für Zwecke der industriellen Kolonisation 1822 gegründete Industriefonds betrug anfangs 45 000 Rubel, 1823 schon das Doppelte und von da an 127 500 Rubel jährlich.[2]

So mannigfache Anziehungsmittel verfehlten nicht ihre Wirkung. Bald kamen deutsche Handwerker truppweise nach Polen und siedelten sich an. Ungefähr zehntausend deutsche Familien sind zu jener Zeit in wenigen Jahren eingewandert. Auf diese Weise entstanden bald die heute wichtigsten industriellen Städte: Łódź, Zgierz, Rawa, Pabianice u. a. Neben

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[1] Kongreßpolen bzw. Königreich Polen: Im Ergebnis der drei Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795 waren die Westgebiete an Preußen und Galizien samt Krakau an Österreich gegangen, das sogenannte Kongreßpolen bzw. „Königreich Polen“ wurde auf dem Wiener Kongreß von 1815 in Personalunion mit Rußland verbunden. Nach dem niedergeschlagenen polnischen Aufstand von 1863 behandelten die zaristischen Behörden jedoch die annektierten polnischen Gebiete nicht mehr weiter als »Königreich«, sondern als bloße Provinzen, die sie administrativ aufspalteten. Die Bezeichnung „Polen“ wurde verboten und nur noch vom „Weichselland“ gesprochen. Zugleich wurde eine Politik der „Russifizierung“ verfolgt. – Im Ausland galt »Kongreßpolen« weiterhin als Synonym für den russisch besetzten Teil Polens. Rosa Luxemburg und Leo Jogiches hingegen zogen den Begriff vom 1867 aufgelösten »Königreich Polen« vor, der einerseits die Gleichberechtigung Polens gegenüber Rußland betonte, andererseits die Unabhängigkeit von den Signatarmächten des Wiener Kongresses – „Kongreßpolen“ – signalisierte. Dementsprechend nannten sie ihre 1893 gegründete Partei „Sozialdemokratie des Königreiches Polen“ (SDKP). 1900 wurde daraus die „Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauens“ (SDKPiL).

[2] O. Flatt: Beschreibung der Stadt Łódź, S. 133–142. – M. Sawelejski: Statistik des Königreichs Polen, S. 170 f. – Diplomatic and Consular Reports on Trade and Finance, Nr. 321, S. 5. – T. Rutowski: Zur Frage der Landesindustrie, S. 34ff. [Fußnote im Original]