Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 109

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Es scheint, daß die Geschichte noch einen sinnfälligen Ausdruck dem Untergang des kleinbürgerlichen Nationalismus verleihen wollte. Schon vor dem Zarenbesuch fing Rußland an, Polen kleine Konzessionen zu machen: Die Kontribution, welche seit dem letzten Aufstand auf dem Lande lastete, wurde aufgehoben, die Presse erhielt die Erlaubnis, über russisch-polnische Verhältnisse zu diskutieren, und dem Werke die Krone aufzusetzen, hat die Zarenregierung gestattet, dem größten Sänger der polnischen Freiheit, Mickiewicz, ein Denkmal in Warschau zu errichten. Polen darf dem Dichter Mickiewicz alle Ehren erweisen, nachdem der Patriot und Revolutionär Mickiewicz allen Einfluß verloren hat. Und jetzt ruft die polnische Bourgeoisie, mit dem Finger auf sein Denkmal deutend: Dies ist die Errungenschaft meiner Politik! Werden wir politisch Russen, dann wird man uns erlauben, kulturell Polen zu bleiben. „Man kann ein guter Pole und zugleich ein guter russischer Untertan sein“, wiederholen die polnischen Zeitungen in allen Tonarten nach dem Zarenbesuch.

So hat die geschichtliche Entwicklung die polnische Frage in ihre beiden Bestandteile – in die Frage von der politischen Unabhängigkeit und von der nationalen Kultur – aufgelöst und dieselben zueinander in Gegensatz gebracht. In der ersten Epoche sind sie noch zu einem harmonischen Ganzen vereinigt. Der Adel verteidigt die polnische Kultur durch den Kampf gegen die politische Knechtschaft. In der zweiten Epoche hieß es: Schließen wir uns nur in friedlicher Arbeit innerlich zusammen, und wir bewahren unsere Kultur trotz der politischen Knechtschaft. Heute heißt es: Nur die resignierte Unterwerfung kann uns nationale Zugeständnisse von Rußland einbringen. Die nationale Kultur kann gerettet werden nur durch die politische Knechtschaft. Der russische Gendarm als Schildwache der polnischen Kultur – das ist das letzte Wort des bürgerlichen Nationalismus.[1]

Von größter Tragweite ist die neueste Wendung der Dinge in Polen für

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[1] Ein Teil der bürgerlichen Presse in Galizien, bestürzt durch die maßlosen Ausschweifungen des Byzantinismus während des Zarenbesuchs in Warschau, sucht dieselben auf die erwähnten miserablen Konzessionen Rußlands an das nationale Gefühl der Polen zurückzuführen. Die eklatanteste Preisgebung des Nationalismus soll demnach selbst nur ein Ausfluß des „nationalen Gefühls“ gewesen sein! Die Nationalisten bemerken nicht, daß sie dabei die Akzessorien, welche nur den Vorwand zu den Ausbrüchen der Loyalität bilden konnten – die russischen Zugeständnisse –, für deren tiefliegende soziale Ursachen nehmen und so den Nationalismus, den sie mit ihrer Auslegung retten wollen, nur anstatt, wie tatsächlich, durch einen langen geschichtlichen Prozeß, durch einen Federstrich der russischen Staatskanzlei untergehen lassen. Ja, noch mehr. Sie bemerken nicht, daß die Konzessionen an das nationale Gefühl selbst nur darauf zurückzuführen sind, daß Rußland bereits aufgehört hatte, dem „nationalen Gefühl“ irgendwelche politische Bedeutung beizumessen. [Fußnote im Original]