Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 107

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her dem Generalgouverneur den Zweck der Demonstration kurz und bündig formuliert: „Wir hoffen, daß nun für uns die Zeit gekommen ist, ein noch nützlicherer Faktor des organisch vereinigten Reichsganzen zu werden.“ Der Zarenempfang war nur die Illustration in lebenden Bildern hierzu. Und der Schwung der Phantasie war so enorm, daß er alle Erwartungen ebenso ihrer polnischen Urheber wie des russischen Publikums weit übertraf. Das ganze offizielle und bürgerliche Rußland, welches auf die Wichtigkeit des Moments vorbereitet war und den Verlauf der Demonstration mit Spannung verfolgte, geriet in Erstaunen. „Es beginnt ein neues Blatt im Leben Polens“, riefen die „Nowosti“. „Der jetzige Moment ist ein Wendepunkt in den polnisch-russischen Verhältnissen“, wiederholte die „Nedelja“. Die Polen „wollen die Befestigung der Bande, die sie mit dem Reiche vereinigen“, fügten die „St.-Petersburger Nachrichten“ hinzu. „Es steht also den Polen bevor, in politischer Beziehung Russen zu werden“, schloß endlich mit schlecht verhehltem Unwillen auch das Katkowsche Hetzorgan, die „Moskauer Nachrichten“. Sogar die unversöhnlichsten Reptilien waren entwaffnet. Gemäß dem politischen Apparat des Absolutismus fehlte nur noch die Sanktion des Alleinherrschers. Sie erfolgte, „das ersehnte Wort fiel“. Nikolaus II. gab dem bürgerlichen Warschau zur Antwort: „Ich glaube vollständig an die Aufrichtigkeit Eurer Gefühle.“ Die Knute ist großmütig auf den Vorschlag eingegangen, Polen eine „strahlende Zukunft“ zu sichern, und der polnischen Gesellschaft wurde das Zeugnis ausgestellt, daß sie vollkommen reif ist, eine Stütze des Zarismus zu werden. Dies das Fazit des historischen Ereignisses.

Mit dem Zarenbesuch beginnt in Polen eine neue Phase der politischen Entwicklung. In der ersten Epoche führt der Adel im Namen Polens den Kampf mit Rußland, während die Bourgeoisie, fremd und gering an Zahl, offen ihre Russenfreundlichkeit hervorkehrt. In der zweiten übernimmt sie die Führung der Nation, verwandelt den nationalen Separatismus in politische Abstinenz und läßt die adelige Gesellschaft unter der nationalen Phrase den Kapitalismus akzeptieren. Nachdem die Phrase verraucht ist und der Kapitalismus von sich heraus eigene politische Konsequenzen erzeugt hat, kehrt die Bourgeoisie zu ihrem ursprünglichen Programm in entwickelter Form, zur Unterstützung nicht nur der Annexion, sondern des Absolutismus, diesmal aber nicht im Gegensatz zu Polen, sondern im Namen Polens, zurück.

Das gegenseitige Verhältnis der beiden herrschenden Klassen Polens erleidet dadurch eine bedeutende Verschiebung, indem der seit den sech-

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