Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 106

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Ein noch nie bei einem Zarenbesuch in Polen dagewesenes, sinnreich erdachtes Arrangement der Begegnungen, alle Stände in ihren Trachten mit Emblemen und Orchestern, jedes um seine Triumphpforte geschart, polnische Fürsten, jüdische Börsenjobber und deutsche Seifensieder, Bourgeois im Frack, Landadelige in nationaler Uniform und mit Degen, alle Zünfte mit ihren Fahnen, Rabbiner in schwarzen Atlasroben, katholische Pfaffen in weißen Ornaten, Bauern in ländlichen Trachten, die bürgerliche und kleinbürgerliche Intelligenz gruppiert als Sängervereine, Eisenbahnbeamte, Yachtklubs, Zyklisten, alles in wohlgeordneten Karrees in geduldig schwitzender stundenlanger Erwartung auf den Straßen Warschaus, alle Orchester einstimmend in die ohrenzerreißende Zarenhymne, die Stadt in einer feenhaften Beleuchtung, Blumen, Flaggen und Obelisken, fünftausend befrackte Gestalten als Ehrengarde, zweimalhunderttausend Personen aus der Provinz nach Warschau zur Demonstration hergeeilt, polnische Lieder gesungen vor den Fenstern des Zarenpalasts, „Gott behüte den Zaren“ in polnischer Übersetzung, eine Subskription, an der hunderttausend Personen teilgenommen und deren Ergebnis im Betrag von einer Million Rubel zur Gründung einer Gedenkstiftung dienen sollte, begeisterte Begrüßungsartikel in der gesamten polnischen Presse – alles dies loderte in einem zischenden Feuerwerk des Lakaientums Nikolaus II. entgegen. Die Bourgeoisie ließ vor seinen Augen das ganze besitzende Polen vorbeidefilieren und rief ihm zu: La Pologne c’est moi! Ganz Polen folgt mir, und ganz Polen ist bereit, auf meinen Ruf vor den Treppen Deines Thrones niederzuknien. „Nimm Millionen unserer Herzen zum Geschenk“, waren die Worte der polnischen Deputation bei der Begrüßung des Zaren, „ganz Polen erblickt in Deiner großmütigen Alleinherrschaft (!), in der inneren Ruhe (!) und der äußeren Macht des Reiches eine strahlende Zukunft (!) für sich und ist bereit, im Glück oder Unglück treu zu dienen Dir, seinem geliebten Monarchen ...“ „Seinem geliebten Monarchen“, seufzte das Echo von den Mauern der Vorstadt Praga, wo jetzt am Bahnhof der Zarenempfang und wo vor hundert Jahren die Suworowsche Metzelei[1] stattfand.

„Strahlende Zukunft“ – „Großmut der Alleinherrschaft“ – das war die offizielle Sprache einer Klasse, welche ihre Forderungen in die gesetzmäßigen Formen des absoluten Regimes zu kleiden wußte. Das war die offizielle Poesie. In schlichter Prosa hat dieselbe Deputation am Tage vor-

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[1] A. W. Suworow hatte ab August 1794 das Hauptkommando über die zaristischen Truppen bei der Niederschlagung des polnischen Befreiungskampfes geführt und am 24. Oktober 1794 in einem Großangriff die Vorstadt Warschaus, Praga, eingenommen.