Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 105

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gleich einerseits der Verzicht auf den Nationalismus, doch andererseits zugleich der Verzicht auf die Teilnahme an dem politischen Leben des Reiches. Während in Rußland die gesamte Presse und die bestehenden Klassen durch Ausnutzung des eigenartigen Apparats, wodurch sich das russische absolute Regime den Bedürfnissen des Kapitalismus angepaßt, durch Besprechungen, Petitionen, Interessenvertretungen, unmittelbaren Verkehr der Körperschaften mit den Ministerien, lebhaften Anteil an den Regierungsakten nehmen, verhielt sich Polen bis jetzt zu der Reichspolitik ganz passiv und gleichgültig. Einzig die Bourgeoisie bildete politisch ein lebendiges Bindeglied zwischen der polnischen Gesellschaft und der russischen Regierung, aber ihr Geschäft verrichtete sie gleichsam ohne Teilnahme der Gesellschaft. Vom russischen gesellschaftlichen Leben bekam man in der polnischen Presse nur sehr wenig zu lesen, und im ganzen blieb gerade durch das gänzliche Fehlen der politischen Aktivität und eine gewisse vornehme Zurückhaltung der Presse immer noch ein letzter Schein der Abgeschlossenheit Polens bewahrt. Dieselbe Zurückhaltung Polens gab andererseits den russischen Preßreptilien die Möglichkeit, unermüdlich „polnische Intrigen“ zu wittern und der Bourgeoisie vorzuhalten, daß Polen nur der Not gehorchend und nicht dem inneren Triebe die russische Herrschaft erträgt.

Dem galt es nun ein Ende zu machen. Soll die Bourgeoisie in vollem Maße zu einem Faktor der russischen Politik und der Adel zu einem Günstling der Regierung, so muß Polen zu einem aktiven Teile des russischen Reiches werden. Soll Rußland der polnischen Bourgeoisie Einfluß auf die Reichsangelegenheiten gewähren, so muß Polen zeigen, daß es diese Angelegenheiten als seine eigenen betrachtet. Soll andererseits der Zarismus mit der polnischen Bourgeoisie nicht mehr bloß als mit seinem Handlanger in Polen, sondern als mit einer Macht in Rußland selbst rechnen, so muß die Bourgeoisie zeigen, daß sie ihre Bedeutung in Polen nicht mehr der russischen Gunst verdankt, sondern auf eigenen Füßen steht, daß sie sich jetzt nötigenfalls auch dem Zarismus gegenüber auf die polnische Gesellschaft stützen kann. Schon seit der Thronbesteigung Nikolaus’ II. haben die beiden herrschenden Klassen Polens mit Hochdruck in dieser Richtung gearbeitet, es blieb nur noch, den vorbereitenden Schritten die Krone aufzusetzen. Die politische Identität Polens mit der Bourgeoisie und die Bereitwilligkeit beider, als aktive Stütze dem Absolutismus zu dienen, dies sollte Rußland in einem Coup vordemonstriert werden. Und zu einer solchen Demonstration gestaltete sich der Zarenempfang in Warschau am 1. und 2. September.

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