Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 104

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keine abgesonderte Gruppe, sie werden überall mitberührt. Und nun galt es für die Bourgeoisie eine neue Position zu erobern: zum mitwirkenden Faktor der gesamten wirtschaftlichen Reichspolitik zu werden, auf die Verwaltung nicht nur Polens, sondern auch Rußlands einen Druck ausüben zu können.

Andererseits hatte auch der Adel selbst keineswegs das Gefühl, das höchste Ziel seiner Wünsche erreicht zu haben. Er hatte zwar seiner Vergangenheit vollständig abgeschworen, was er aber schließlich dafür erhalten, war beim Vergleich seiner Lage mit derjenigen des russischen Adels lächerlich wenig. Während in Rußland die Rettung des untergehenden adeligen Grundbesitzes zur Staatsaufgabe ersten Ranges erhoben wurde, die durch eine Reihe spezieller Einrichtungen, wie die Adelsbank, die Gewährung von Kredit gegen Getreide, Kommission zur Hebung der Getreidepreise etc. etc., auf Konto der Staatskasse gesteuert wird, während der russische Adel eine eigene ständische Interessenvertretung, die ländliche Selbstverwaltung, und sogar in der Person der Bezirkshauptleute eine gerichtlich-polizeiliche Gewalt über das Bauerntum hat, mußte sich der Adel in Polen bis jetzt nur auf die „Selbsthilfe“ verlassen. Er hatte nicht nur unter seinem reaktionären Renegatentum, sondern auch unter der Unvollständigkeit seines Renegatentums zu leiden. Denn während er einerseits auf eine polnische Regierung bereits verzichtet hatte, konnte er doch andererseits die russische Regierung noch nicht seine eigene nennen. In den letzten Jahren ertönte in Polen ein immer lauterer Ruf des Adels nach Staatshilfe. Um sich aber der Früchte seiner Entsagung voll und ganz zu erfreuen, mußte er einen weiteren Schritt vornehmen – sich der Zaren-regierung nähern und neben dem russischen Adel im Reiche Platz zu nehmen suchen.

Aber die Eroberung der neuen Position war an Bedingungen geknüpft. Nicht etwa durch konstitutionelle Rebellion konnte das bürgerliche Polen zum Mitregieren und Mitplündern des Staatssäckels in Rußland gelangen. Umgekehrt, unter dem absoluten Regime herrschen heißt kriechen, und eine Gesellschaftsklasse kann sich den Absolutismus dienstbar machen nur, indem sie selbst von vornherein zur Dienerin des Absolutismus wird. So stand es denn der polnischen Bourgeoisie und dem Adel bevor, das Verhältnis Polens zu Rußland nach dieser Richtung gründlich zu reformieren.

Bis jetzt bildete Polen trotz aller ökonomischen Bande mit Rußland doch politisch und geistig ein abgesondertes Ganzes. Die separatistischen Tendenzen wurden zwar ausgemerzt und in politische Abstinenz verwandelt. Aber die politische Abstinenz selbst hatte zwei Seiten. Sie war, wenn-

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