Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 92

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die Verwerfung des Kampfes um konstitutionelle Freiheiten in dem absolutistischen Rußland. Reaktionäre Utopie, wie das Programm seiner sozialen Grundlage und seiner Praxis nach ist, wird es mit jedem Tag von der revolutionären Wirklichkeit auf den Kopf geschlagen: Die immer stärkere soziale Differenzierung des Kleinbürgertums in Polen und der in den letzten Jahren glänzend inaugurierte Kampf der Arbeiterklasse in Rußland untergraben zugleich diejenige Schicht, der die nationalen Utopien in Polen entstammen, und die Illusionen von der politischen Starrheit Rußlands, denen sie ihre Hauptargumentation entnehmen.

In Österreichisch-Polen beginnt eine sozialdemokratische Massenbewegung im Jahre 1890, seit der Maifeier, die in Galizien wie in ganz Österreich bis zur Erringung des Wahlrechts die wichtigste politische Kampfwaffe war und alljährlich Zehntausende Arbeiter ins Feld führt. Auf die praktische Seite der galizischen Bewegung können wir hier, wo wir dem Leser hauptsächlich die Gedankenarbeit des polnischen Sozialismus vor die Augen führen wollen, nicht eingehen. Was aber das Programm und die Taktik der galizischen Sozialdemokratie betrifft, so steht sie auf gemeinsamem Boden mit der gesamtösterreichischen Partei, deren Teil sie gleich den Parteien anderer Nationalitäten Österreichs bildet. Sie hat eine Reihe stramm organisierter Gewerkschaften, besitzt mehrere Parteiorgane und weist überhaupt die stärkste polnische sozialistische Bewegung auf. Ihre Siege bei den letzten Wahlen zum Reichsrate sind noch in frischer Erinnerung.

In Preußisch-Polen beginnt eine organisierte Bewegung gleichfalls im Jahre 1890 unter tätiger Mitwirkung der deutschen Sozialdemokratie. Die Partei hat sich bald nach ihrer Entstehung auf den Boden des Erfurter Programms[1] gestellt. Bei den Reichstagswahlen von 1893 hat sie 6 295 Stimmen auf ihre Kandidaten vereinigt. Die polnische Sozialdemokratie hat hier unter den schwierigsten Verhältnissen zu wirken, denn einerseits legen ihr die rückständigen sozialen Verhältnisse der preußisch-polnischen Provinzen, andererseits ihre schneidige Polizeiwirtschaft ungeheure Hindernisse in den Weg.[2]

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[1] Auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 14. bis 20. Oktober 1891 in Erfurt war ein marxistisches Parteiprogramm angenommen worden.

[2] Wir können nicht umhin, hier der anonym vom sozialnationalistischen Standpunkt geschriebenen „Geschichte der sozialistischen Bewegung in Polen“ (Handbuch des Sozialismus von Dr. C. Stegmann und Dr. C. Hugo) Erwähnung zu tun. Es werden darin – um das Verdienst des sozialdemokratischen Bundes Polnischer Arbeiter illusorisch zu machen – die ersten Versuche, eine gewerkschaftliche Bewegung in Russisch-Polen zu schaffen, in die vorhistorische Zeit des polnischen Sozialismus, wo es noch Oberhaupt keine Bewegung gab, versetzt. Um ferner das antinationalistische politische Programm des Bundes zu vertuschen, wird ihm jeder politische Charakter überhaupt abgesprochen. Die prinzipielle Gegnerschaft des alten „Proletariat“ zum Nationalismus wird auf momentane Opportunitätsrücksichten reduziert und zu diesem Zwecke die ganze prinzipielle Physiognomie des „Proletariat“ verwischt. Schließlich läßt der Verfasser diese beiden antinationalistischen Parteien. das „Proletariat“ und den Bund, sich zu einer sozialnationalistischen Partei vereinigen, wodurch die letztere glücklich als dasjenige freudige Ergebnis erscheint, worauf die 15jährige Entwicklung des polnischen Sozialismus hingearbeitet hat. Kurz, die ganze Geschichte ist genau mit der Wahrheitsliebe geschrieben, mit der etwa Miguel die Geschichte des deutschen Sozialismus der 40er Jahre geschrieben hätte, wenn er dazu verdammt wäre, das heutige preußische Finanzministerium als direkte Fortsetzung des deutschen Kommunistenbundes darzustellen.