Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 91

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mit der obigen Argumentation in Polen erzielt hat, zu berichten; ich beschränke mich deshalb auf eine kurze Charakteristik des Verhältnisses der Sozialdemokratie zu derselben.

An sich hätte es die Sozialdemokratie nicht nötig gehabt, besonders auf die kindische Zumutung einzugehen, das polnische Proletariat solle auf eigene Faust mit den drei polnischen Bourgeoisien und den drei Annexionsregierungen fertig werden und, in seiner Bestrebung, alle Klassenstaaten aufzuheben, vor allem selbst einen neuen Klassenstaat errichten. Da der geschichtliche Prozeß die logische Entwicklung seiner eigenen Widersprüche und nicht der Widersprüche dieses oder jenes Programms darstellt, so könnte man es ruhig der Geschichte überlassen, mit der neuesten nationalistischen Utopie abzurechnen. Dieselbe hat aber sehr ernste Folgen in der Praxis. Das ganze Minimalprogramm des Sozialpatriotismus – sowohl die politischen Forderungen wie die des Arbeiterschutzes – bezieht sich auf den erst zu errichtenden polnischen Staat; die Aufstellung demokratischer Forderungen an das zarische Rußland verwirft es prinzipiell. Es war deshalb notwendig, dieses Programm auch ernst zu analysieren und den sozialen Kern, der in den Bestrebungen der Sozialnationalisten steckt, von dem sie aber selbst keine Ahnung haben, aufzudecken.

Nachdem die kapitalistische Entwicklung Polen an Rußland immer mehr gefesselt und die ehemaligen Verfechter der nationalen Freiheit, den Adel und die katholische Geistlichkeit, zusammen mit der Bourgeoisie zu einem Bollwerk der Fremdherrschaft gemacht hat, kann der Nationalismus nur noch betrachtet werden als der ideologische Ausdruck der Unzufriedenheit derjenigen Schicht in Polen, welche von dem kapitalistischen Prozeß vernichtet wird – des untergehenden Teiles des Kleinbürgertums. Ihrem sozialen Charakter nach sind demgemäß auch die Bestrebungen der Sozialpatrioten nichts anderes als ein unbewußter Abklatsch des kleinbürgerlichen Utopismus. Äußerlich hat er sich die sozialdemokratische Terminologie angeeignet, schwört auf Marx und Engels, spricht von Klasseninteressen, von Klassenkampf, von kapitalistischer Entwicklung. Was aber unter diesem revolutionären Gewand hervorguckt, das ist der reaktionäre Pferdefuß des Kleinbürgertums, die Opposition gegen die kapitalistische Entwicklung, das Interesse einer Schicht, welche selbst ohnmächtig ist, ihre Interessen unter eigenem Banner zu verfechten.

Praktisch erstrebt er demokratische Freiheiten im unabhängigen polnischen Staate. Da aber dieser Staat selbst nicht existiert, so reduziert sich die politische Praxis des Sozialpatriotismus auf die gänzliche Negation des politischen Kampfes .in dem existierenden Staate, dem Polen angehört, auf

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