Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 9

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Die von den Arbeitern angenommene entschlossene Haltung zwang der Bourgeoisie und Regierung manches Zugeständnis ab; hier und da erlangten die Arbeiter höhere Löhne oder kürzere Arbeitszeit, die Regierung nahm notgedrungen die Rolle eines Beschützers der Arbeit auf sich, überwachte die Erfüllung der notdürftigsten Arbeiterschutzgesetzgebung, wodurch wenigstens den schreiendsten Übeln hie und da abgeholfen wurde; die Zahl der Fabrikinspektionskreise und der Inspektoren wurde vergrößert. Natürlich wurde auch hier wie in allen Staaten, die „Sozialpolitik von oben“ treiben, hauptsächlich der Schein gewahrt und nichts Durchgreifendes geschaffen.

Der politische Kampf wird dem Proletariat durch die Haltung der Regierung in ökonomischen Fragen aufgedrungen; denn einerseits heuchelt diese Arbeiterschutzpolitik, bietet ihm kleinliche Palliativmittelchen an, welche größtenteils auf dem Papier bleiben, anderseits sucht sie jede selbständige Regung der ausgebeuteten Klassen mit roher Polizeifaust niederzuschmettern. Die Streiks werden durch besondere Verordnungen verboten, und wenn sie trotzdem zustande kommen, sind Polizei und Militär bereit, sie niederzuhalten. Arbeitervereine und -kassen sind ebenfalls verboten, und wenn sie entdeckt werden, drohen den Beteiligten langjährige Kerkerstrafen. Jede Tatsache dieser Art ist eine neue praktische Lehre von der Notwendigkeit des politischen Kampfes für die Arbeiter und bestätigt die Lehren der Sozialdemokratie; denn jede dieser Tatsachen zeigt klar und deutlich, daß der Absolutismus eine Schranke ist, welche jede Verbesserung der heutigen Lage der arbeitenden Klasse unmöglich macht, ebenso wie er den sozialistischen Bestrebungen überhaupt im Wege steht, daß alle Anstrengungen des Proletariats darauf gerichtet sein müssen, diese Schranke zu stürzen, daß alle Kräfte daranzusetzen sind, dem Zarentum eine demokratische Konstitution abzuzwingen. Diese Losung der Sozialdemokratie, der politische Kampf, der Kampf um Rechte und Freiheiten für das arbeitende Volk, ertönt am lautesten am Tage der Maifeier.

Die Maifeier hat vom ersten Augenblicke an bei unserm Proletariat ihre volle Bedeutung gewonnen. Schon im Jahre 1890 feierten gegen zehntausend Arbeiter, hauptsächlich in Warschau, gemeinschaftlich mit den Arbeitern der ganzen Welt. Im nächsten Jahre war die Zahl schon auf 25 000 bis 30 000 gestiegen und feierten außer in Warschau die Arbeiter der Industriezentren Žyrardów und Łódź. Die Maifeier im Jahre 1892, an welcher in Łódź allein 80 000 Arbeiter die Arbeit niederlegten und welche infolge der Polizeiprovokationen so blutig endete, zog ihrerzeit die Aufmerksamkeit von ganz Europa auf sich. Auch in diesem Jahre erhoben

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