Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 740

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wordene und von ihr selbst mit naturgesetzlicher Notwendigkeit erzeugte Klasse der nichtbesitzenden Lohnarbeiter, sondern – die physische und geistige Entartung der Arbeiterschaft. „So zeigt sich“, schreibt er auf S. 14, „vom Ende des 18. bis gegen Mitte des 19. Jahrhunderts ein Arbeiterelend, wie es die Welt vielleicht noch nicht gesehen hatte: Hungerlöhne, überlange Arbeitszeit, ungenügende Werkstätten und Behausungen, Überanstrengung und Mißhandlung namentlich von Kindern und Frauen, gewerbliche Krankheiten, Typhus, Schwindsucht, allenthalben geschwächte körperliche Tauglichkeit und Kraft, Zerstörung des Familienlebens, Mangel an jeder Erziehung und Bildung, tierischer Geschlechtsverkehr, unmäßiges Trinken, Verrohung und Verwilderung, stumpfsinnige Entmutigung oder gewalttätige Verzweiflung. Eine neue, mehrere Millionen mindestens umfassende Bevölkerungsschicht hat sich gebildet, deren Kennzeichen das traurigste aller, die Entartung ist: das Proletariat.“

Dementsprechend findet Nostitz das Proletariat nur in den Anfangsstadien des Kapitalismus; mit seiner Entwicklung, mit der Hebung der Arbeiterklasse schwindet auch das Proletariat. „Der Lohnarbeiter hört auf, als solcher Proletarier zu sein“, schreibt er auf S. 765. Und es handelt sich hier nicht bloß um einen falschen Sprachgebrauch; Nostitz vertritt die Ansicht, daß der Arbeiter mit seiner Hebung in England nach und nach zum Besitzenden wird, zur Bourgeoisie hinaufrückt. Diese Ansicht wirkt aber, wie wir weiter sehen werden, bei seiner Behandlung der statistischen Geschichte der Lohn- und Vermögensverhältnisse in hohem Maße mit, spielt also direkt in die stoffliche Bearbeitung des Themas hinein.

Nahe verwandt mit der Auffassung Nostitzens vom Proletariat ist seine Vorstellung von der Klassenherrschaft als dem Produkt des parlamentarischen Systems in England. Der Herr Legationsrat hat dabei den unfreiwilligen Humor, für das Aufkommen der Klassenherrschaft in England besonders das Fehlen des famosen „sozialen Königtums“ nach preußischem Muster verantwortlich zu machen. „England hat nicht das Glück eines solchen Königtums.“ (S. 757.) Aber was das Königtum versäumt hatte, holt die später aufgekommene Demokratie nach: Sie hebt in weiterer Folge die vom Parlamentarismus geschaffene Klassenherrschaft wieder auf (S. 764), und so sehen wir gegenwärtig in England das Bild eines gesegneten Landes, wo bei voller Entfaltung des Kapitalismus ebenso das Proletariat wie die Klassenherrschaft im raschen Schwinden begriffen sind.

Man sieht, die allgemeine Auffassung des Herrn von Nostitz von der gesellschaftlichen Entwicklung in England nähert sich sehr der Auffassung Bernsteins. Freilich mit dem Unterschied zugunsten der Nostitzschen

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